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Krieg auf Pump

Ukraine kann sich den Feldzug im Donbass nicht leisten. Das ist für Kiew aber kein Argument: Präsident Poroschenko verlangt Rüstungslieferungen auf Kredit

Von Reinhard Lauterbach *

Die Ukraine gibt für ihre »antiterroristische Operation« im Donbass täglich den Gegenwert von fünf Millionen US-Dollar aus. Das teilte Präsident Petro Poroschenko am Wochenende mit. Die Zahl an sich ist nicht neu; die Kiewer Angaben zu den Kriegskosten halten sich seit dem Frühjahr ungefähr in dieser Höhe. Auffällig ist jedoch, dass die offiziell deklarierten Ausgaben nicht gesunken sind, obwohl die Intensität der Kämpfe seit einigen Wochen nachgelassen hat. Das deutet darauf hin, dass in diese Zahl auch Teile der laufenden Aufrüstung eingerechnet sind, die unter den militärischen »Investitionen« verbucht werden müssten.

Die neue ukrainische Regierung hat für das kommende Jahr angekündigt, die Militärausgaben auf fünf Prozent des Sozialprodukts zu steigern. Wie aus einer Aufstellung des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden hervorgeht, ist das doppelt soviel wie im weltweiten Durchschnitt und um 25 Prozent über den relativen Lasten, die die USA mit Militärausgaben von knapp vier Prozent des Sozialprodukts tragen. Angesichts der Tatsache, dass nach den Worten von Premierminister Arseni Jazenjuk abgesehen von den laufenden Kosten des Krieges die ukrainische Volkswirtschaft durch den Verlust des Donbass auch 20 Prozent ihrer Wertschöpfung und 20 Prozent ihrer Exporterlöse abschreiben musste, ist dieses Programm wirtschaftspolitisch als »ambitioniert« – oder, näher an der Wahrheit, als wahnwitzig – einzuschätzen. Die Kiewer Regierung hat die Rüstungsindustrie des Landes aufgefordert, ohne Rücksicht auf die Kosten im Dreischichtbetrieb zu produzieren. Im Rahmen der Bezahlung sollen die Betriebe Staatsanleihen erhalten. Faktisch ist das ein Zwangskredit, den die Unternehmen ihrem staatlichen Kunden einräumen sollen. Poroschenko rief auch die ausländischen Partner der Ukraine auf, ihr zu diesen Konditionen Rüstungsgüter zu liefern.

Natürlich kann Kiew seine inländische Rüstungswirtschaft womöglich eine Weile zwingen, ohne Bezahlung oder gegen frischgedrucktes Geld zu produzieren. Allerdings läuft das Gelddrucken den »Reformen« zuwider, die die westlichen Kreditgeber von IWF und EU als Bedingungen für ihre »Beistandsgelder« verlangen. Und es ist mehr als zweifelhaft, ob sich ausländische Lieferanten ohne Garantien der Regierungen ihrer Länder – die de facto darauf hinauslaufen würden, diese Exporte aus den jeweiligen Staatshaushalten zu subventionieren – mit ukrainischen Staatsanleihen werden abspeisen lassen. Polen zum Beispiel hat keinerlei politische Bedenken, die Ukraine mit Kriegsgerät zu versorgen, hat diese Rüstungslieferungen aber unter Zahlungsvorbehalt gestellt. Deshalb ist die Vorfreude der polnischen Rüstungsindustrie auf Großaufträge aus der Ukraine inzwischen einer zurückhaltenden Bewertung dieses Geschäftsfeldes gewichen.

Nicht anders blicken offenbar die internationalen Kreditgeber selbst auf die Ukraine. Vergangene Woche hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dem Drängen der Kiewer Regierung eine Absage erteilt, vorfristig eine weitere Kredittranche freizugeben. Es gebe keine Budgetreserven mehr, teilte der Kommissionschef mit. Poroschenko soll sich daraufhin in einem Telefongespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über die »Zögerlichkeit« der internationalen Kreditinstitutionen im Umgang mit seinem Land beschwert haben. Dabei, so wird Poroschenko zitiert, habe die Ukraine doch einen Haushalt nach westlichen Vorgaben verabschiedet.

* Aus: junge Welt, Montag, 22. Dezember 2014


Hegemoniales Dilemma

Deutschland, die EU und Russland

Von Reinhard Lauterbach **


Im Vorfeld des zweiten Irak-Krieges brachte US-Vizepräsident Richard Cheney gegen den Widerstand von Gerhard Schröder und Jacques Chirac das »neue Europa« in Stellung: jene Staaten vor allem Osteuropas, die die amerikanischen Kriegspläne auch nach außen mittrugen und nicht nur diskret durch irgendwelche BND-Agenten in Bagdad. Man kann sagen: Die USA drohten mit der Spaltung der EU, falls diese nicht nach der Washingtoner Pfeife tanzen würde. Damals konnte man diese Drohung noch als diplomatische Unfreundlichkeit herunterspielen, denn das »neue Europa« war noch nicht Teil der EU.

Heute, gute zehn Jahre später, hat sich das geändert. Die osteuropäischen Staaten von Estland bis Rumänien, deren Staatsräson sich aus wenig mehr zusammensetzt als aus dem Punkt, gegen Russland zu sein, sind inzwischen EU-Mitglieder, stellen mit dem Polen Donald Tusk inzwischen sogar den Präsidenten des Europäischen Rates. Und Warschauer Politikberater diskutieren ziemlich offen die Option, Polen als zentralen Frontstaat des neuen Kalten Krieges auch international aufzuwerten, nicht zuletzt, um das deutsche Übergewicht in der EU zu neutralisieren.

Damit stellt sich die EU-Erweiterung aus Berliner Perspektive einigermaßen zweischneidig dar. Einerseits hat sie dazu beigetragen, dass das Gewicht der BRD als Hegemonialmacht Europas gewachsen ist. Andererseits steht diese Hegemonie auf tönernen Füßen, sollte Berlin auf die Idee kommen, sie in eine praktische Politik umzusetzen, die sich in Konkurrenz zu den Vorgaben aus den USA begibt. Im Hintergrund steht in Washingtoner Denkfabriken konstant das Gespenst einer deutsch-russischen Annäherung als einem der größeren anzunehmenden geopolitischen Unfälle. Durch die Schaffung eines Gürtels Amerika-höriger Staaten Osteuropas ist diese Option schon geographisch kaum noch realistisch. Aber bezeichnenderweise ist inzwischen die aus Polen und dem Baltikum einst wütend bekämpfte Ostseepipeline »North Stream« die einzige halbwegs gegen direkte oder indirekte Blockadeversuche des US-Lagers gesicherte Quelle deutscher Gasimporte aus Russland.

US-Außenpolitik ist der Maxime untergeordnet, auch unter den eigenen Verbündeten keinen potentiellen Rivalen aufkommen zu lassen. Deshalb hat Washington 1954 die französische Niederlage in Vietnam zugelassen und 1956 die Briten in Suez gedemütigt. Die BRD stand damit beim Ausbruch der Ukraine-Krise vor einer unangenehmen Wahl: das halbwegs florierende Sonderverhältnis zu Russland beizubehalten und dafür die Hegemonie innerhalb der EU aufs Spiel zu setzen, oder eben dieser Hegemonie – die natürlich auch die Grundlage für Berlins Gewicht in Moskau ist – jenes Sonderverhältnis zu opfern. Man weiß, wie die Entscheidung ausgefallen ist. Dieses Dilemma erklärt die erkennbare Unlust, mit der die Bundesregierung die Sanktionen mitträgt.

** Aus: junge Welt, Montag, 22. Dezember 2014 (Kommentar)


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