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Rechtsextreme in Kiew? Nehmt das mal nicht so ernst!

Eine denkwürdige Erklärung von Sozial- und Geisteswissenschaftlern


Im Folgenden dokumentioeren wir eine Erklärung einer Reihe von Sozial- und Geisteswissenschaftlern, die sich nach eigenem Bekunden "mit ukrainischer nationaler Identität" befassen und u.a. auch über die "postsowjetische ukrainische radikale Rechte" arbeiten. Der Aufruf wurde am Wochenende auf der Website der den Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlicht.
Man merkt dem Text an, dass die Wissenschaftler in Erklärungsnot sind: Sie sind mit Vorwürfen (und Fakten!) konfrontiert, wonach der Umsturz in Kiew maßgeblich auch von rechtsradikalen und faschistischen Kräften voran getrieben wurde, stehen aber politisch vollständig hinter der neuen Ordnung.
Wahrheitswidrig wird in der Erklärung behauptet, der "fragile Staat" sehe sich "einer ernsthaften äußeren Bedrohung" gegenüber, womit natürlich nicht die EU, sondern nur Russland gemeint sein kann. Militärische Drohgebärden haben wir aber eher im Westen (z.B. bei der EU oder der NATO) herausgehört; Moskau hat sich aus dem Konflikt wohltuend herausgehalten. Einäugig auch die Behauptung, Terror habe es in den letzten Tagen ausschließlich vom alten System gegeben ("Staatsterror gegen die Bevölkerung"), weshalb Verständnis dafür aufgebracht wird, dass "mehr und mehr einfache Ukrainer wie auch Kiewer Intellektuelle friedlichen Widerstand für inzwischen wirkungslos" gehalten hätten. Also doch Gewalt auf Seiten der Demonstranten? Macht nichts, scheinen die Verfasser der Erklärung zu denken, denn insgesamt handelt es sich doch um eine "freiheitliche Massenbewegung zivilen Ungehorsams".
Die Verharmlosung rechtsradikaler Gewalt gipfelt schließlich in folgender Argumentation: "Die instabile Situation des Landes und enormen Alltagsschwierigkeiten einer Übergangsgesellschaft erzeugen vielerlei destruktive und widersprüchliche Meinungen, Verhaltensweisen und Diskurse. Eine Unterstützung von Fundamentalismus, Ethnozentrismus und Ultranationalismus hat vor diesem Hintergrund manchmal mehr mit der andauernden Verwirrung und den täglichen Sorgen der unter solchen Verhältnissen lebenden Menschen zu tun, als mit ihren tieferen Überzeugungen."

Wir dokumentieren im Folgenden die "Erklärung" im vollen Wortlaut - auch wenn sie mit unseren Wahrnehmungen nicht übereinstimmt.



Der Kiewer Euromaidan ist keine extremistische, sondern eine freiheitliche Massenbewegung zivilen Ungehorsams

Wir sind eine Gruppe von Sozial- und Geisteswissenschaftlern, die sich mit ukrainischer nationaler Identität befassen, und die meisten der wenigen Experten für die postsowjetische ukrainische radikale Rechte einschließt. Einige von uns publizieren in einschlägigen Fachzeitschriften, andere beschäftigen sich in Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen mit der Beobachtung und Analyse von Fremdenfeindlichkeit in der Ukraine.

Aufgrund unserer Spezialisierung und Forschungsergebnisse sind wir uns der Problematik und Gefahren bewusst, die die Beteiligung rechtsextremistischer Gruppierungen an den ukrainischen Protesten birgt. Da wir uns jahrelang mit diesem Thema beschäftigt haben, können wir die damit verbundenen Risiken besser einschätzen als viele andere Kommentatoren. Einige unserer kritischen Berichte zu nationalistischen Tendenzen in der Ukraine haben wütende Repliken ukrainischer Ethnozentristen sowie aus der ukrainischen Diaspora im Westen hervorgerufen.

Obwohl wir den rechten Aktivitäten auf dem Euromaidan kritisch gegenüberstehen, sind wir besorgt über eine unerfreuliche Erscheinung in zu vielen internationalen Medienberichten über die jüngsten Ereignisse in der Ukraine. In etlichen Reportagen und Kommentaren wird in der einen oder anderen Weise die Rolle, der Stellenwert und der Einfluss ukrainischer Rechtsradikaler in Kiew überbewertet bzw. fehlinterpretiert. Einigen Berichten zufolge wird die ukrainische proeuropäische Bewegung von ultranationalistischen Fanatikern unterwandert, getragen oder gar übernommen. Bestimmte Kommentare erwecken den irreführenden Eindruck, dass die ukrainischen Proteste von derartigen Kräften erzeugt wurden oder gesteuert werden. Schockierende Bildmotive, markige Zitate, pauschalisierende Vergleiche und krude historische Bezüge stehen hoch im Kurs. Damit einher geht eine überproportionierte Gewichtung eines besonders sichtbaren, jedoch politisch zweitrangigen Elements im komplizierten Mosaik der unterschiedlichen Ansichten, Hintergründe und Ziele, welche die hunderttausenden Protestierenden antreiben.

Sowohl der gewalttätige als auch der gewaltfreie Widerstand in Kiew wird jeweils von Repräsentanten verschiedenster ideologischer Strömungen getragen und von Personen unterstützt, welche Probleme hätten, sich eindeutig einem bestimmten politischen Lager zuzurechnen. Nicht nur die friedlichen Protestanten, sondern auch jene, die Stöcke, Steine und sogar Molotowcocktails gegen Spezialeinheiten der Polizei sowie regierungsnahe Schlägertrupps einsetzen, bilden eine breite und dezentrale Bewegung. Die heutige Gewaltbereitschaft vieler Demonstranten ist eine Reaktion auf die wachsende Brutalität der Polizei und die Radikalisierung des Janukowitsch-Regimes. Unter sowohl den friedlichen als auch den bewaffneten Demonstranten finden sich Liberale und Konservative, Sozialisten und Libertäre, Nationalisten und Kosmopoliten, Christen, Nichtchristen und Atheisten.

Unbestritten ist, dass sich unter den gewalttätigen wie auch unter den friedlichen Protestierenden etliche Rechts- und Linksradikale finden. Jedoch spiegelt die Bewegung in gewisser Hinsicht die gesamte ukrainische Bevölkerung wieder. Die starke Betonung der Beteiligung rechtsextremer Randgruppen an den Protesten in einigen internationalen Medienberichten ist ungerechtfertigt und irreführend. Sie hat möglicherweise mehr mit dem Sensationspotential radikalnationalistischer Parolen, Symbole oder Uniformen zu tun, als mit der tatsächlichen Lage vor Ort.

Wir vermuten sogar, dass in einigen Berichten, insbesondere solcher kremlnaher Massenmedien, die übermäßige Betonung der rechtsradikalen Elemente auf dem Kiewer Euromaidan nicht auf antifaschistischen Motiven beruht. Im Gegenteil, derartige Berichterstattung ist paradoxerweise womöglich selbst Ausdruck von imperialistischem Nationalismus sein, in diesem Falle von dessen russischer Variation. Mit ihrer gezielten Diskreditierung einer der größten Massenbewegungen zivilen Ungehorsams in der Geschichte Europas liefern die russischen Medienberichte einen Vorwand für die politische Einmischung Moskaus, ja womöglich sogar für eine künftige militärische Intervention Russlands in der Ukraine, ähnlich derjenigen in Georgien 2008 [1].

Angesichts dieser Risiken bitten wir Kommentatoren, etwa solche aus dem linken Spektrum, bei ihrer berechtigten Kritik des radikal ethnonationalistischen Lagers im EuroMaidan vorsichtig zu sein, da entsprechende Texte leicht von Moskaus „Polittechnologen“ instrumentalisiert werden können, um Putins geopolitische Projekte umzusetzen. Berichte, welche rhetorische Munition für Moskaus Kampf gegen die ukrainische Unabhängigkeit liefern, unterstützen womöglich unabsichtlich eine politische Kraft, die eine weit größere Gefahr für soziale Gerechtigkeit, Minderheitenrechte und politische Gleichheit darstellt, als alle ukrainischen Ethnonationalisten zusammen genommen.

Wir bitten außerdem westliche Kommentatoren, die besondere Lage der ukrainischen Nation im Auge zu behalten und die komplizierte Situation des noch jungen, fragilen Staates zu berücksichtigen, der einer ernsthaften äußeren Bedrohung gegenübersteht. Die instabile Situation des Landes und enormen Alltagsschwierigkeiten einer Übergangsgesellschaft erzeugen vielerlei destruktive und widersprüchliche Meinungen, Verhaltensweisen und Diskurse. Eine Unterstützung von Fundamentalismus, Ethnozentrismus und Ultranationalismus hat vor diesem Hintergrund manchmal mehr mit der andauernden Verwirrung und den täglichen Sorgen der unter solchen Verhältnissen lebenden Menschen zu tun, als mit ihren tieferen Überzeugungen.

Schließlich bitten wir jene, die entweder kein größeres Interesse oder kein tiefergehendes Wissen über die Ukraine haben, sich nicht ohne gründliche Recherchen an Kommentaren über die verwirrenden politischen Verhältnisse dieses Transformationsstaates zu versuchen. Obwohl wir Spezialisten sind, ringen einige von uns jeden Tag damit, die fortschreitende politische Radikalisierung und Paramilitarisierung der ukrainischen Protestbewegung adäquat zu interpretieren. Angesichts der angewachsenen Regierungsgewalt, welche als Staatsterror gegen die ukrainische Bevölkerung bezeichnet werden kann, halten mehr und mehr einfache Ukrainer wie auch Kiewer Intellektuelle friedlichen Widerstand für inzwischen wirkungslos, auch wenn sie ihn eindeutig bevorzugen würden. Reporter, welche die dafür notwendigen Mittel, Zeit und Energie haben, sollten die Ukraine besuchen und/oder sich zu den angesprochenen Themen entsprechendes Wissen anlesen. Diejenigen, die dazu nicht in der Lage sind, mögen ihre Aufmerksamkeit auf vertrautere, unkompliziertere und weniger ambivalente Themen lenken. Dies könnte dazu beitragen, dass die bedauernswert häufigen Klischees, Irrtümer und Fehlinterpretationen in westlichen Diskussionen über die Lage in der Ukraine künftig vermieden werden.

[1] Weiteres in Anton Schechowzows aufschlussreichem Blog zu Aktivitäten verschiedener kremlnaher Institutionen, Verbindungen und Sprecher „Pro-Russian network behind the anti-Ukrainian defamation campaign“ auf. Derer gibt es vermutlich noch mehr.

[Es folgen die Unterzeichner/innen]

* Quelle: Website der Heinrich-Böll-Stiftung, mit den Namen der Unterzeichner/innen; http://www.boell.de/de/2014/02/20/euromaidan-freiheitliche-massenbewegung-zivilen-ungehorsams


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