Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kiew macht dicht

Ukrainische Regierung führt Grenzregime zum Donbass ein. Anschläge in Odessa und Charkiw. Heftige Flügelkämpfe in den Volksrepubliken

Von Reinhard Lauterbach *

Allen Reden über die »Befreiung« der Ostukraine zum Trotz hat die Kiewer Regierung offenbar die Absicht, eine Mauer zu bauen. Alexander Turtschinow, Chef des Sicherheits- und Verteidigungsrates, hat am Wochenende angekündigt, dass die Waffenstillstandslinie zu den Aufstandsgebieten in den Bezirken Donezk und Lugansk zum größten Teil für den Verkehr gesperrt werden soll. Nur an sieben Übergängen werde die Passage noch möglich sein, und dort würden »Personen und Fahrzeuge einer genauen Kontrolle unterzogen«.

Turtschinows Ankündigung ist zum einen eine Reaktion auf eine Welle kleinerer Anschläge in der von Kiew kontrollierten Ost- und Südukraine. Sie haben bisher nur Sachschaden verursacht; so wurden in Odessa mehrere Bahngleise gesprengt und ein Laden für nationalistische Accessoires in Brand gesetzt, in Mariupol eine Eisenbahnbrücke zerstört. Dadurch sind der Hauptbahnhof der Stadt und die Zufahrt zum Hafen seit etwa zwei Wochen nicht mehr zu erreichen. In Charkiw bekannte sich eine Gruppe namens »Partisanen der Slobodanschtschina« (so hieß die Region zur Zeit der russischen Eroberung im 17. Jahrhundert) zu mehreren Anschlägen auf Kasernen der Nationalgarde. Sie forderte die Soldaten der Truppe auf, in ihre westukrainische Heimat zurückzukehren, bevor sie persönlich zu Zielen würden.

Das den Aufständischen nahestehende Portal rusvesna.su veröffentlichte kürzlich ein Interview mit einem Mann, der sich als Koordinator dieser Partisanen vorstellte. Danach sind die Aktionen das Werk dezentral und lokal operierender Gruppen. Der Mann, nach eigenen Worten ein ehemaliger ukrainischer Polizeioffizier, räumte ein, sich im Sommer angesichts des Verfolgungsdrucks aus Charkiw nach Russland abgesetzt zu haben. Vor diesem Hintergrund wirft Kiew Russland vor, die Anschläge zu steuern, um die Ukraine zu destabilisieren.

Doch auch unabhängig davon setzt Kiew auf Abschottung. So erklärte das ukrainische Bildungsministerium vor einigen Tagen, der Schulunterricht in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk sei »illegitim« und werde nicht mehr anerkannt. Seit November hat die Ukraine insgesamt neun Hochschulen aus den Aufstandsgebieten »evakuiert«, also das Personal abgezogen. Das Schulwesen in den Volksrepubliken leidet ohnehin darunter, dass Kiew die Gehaltszahlungen an die Lehrerinnen und Lehrer eingestellt hat, während die Volksrepubliken nicht in der Lage sind, die ohnehin geringen Bezüge der Pädagogen in voller Höhe zu zahlen.

In den Volksrepubliken sind unterdessen offenbar heftige Flügelkämpfe im Gang. Wie erst jetzt bekannt wurde, kamen am Neujahrstag ein Milizkommandeur mit dem Kampfnamen »Batman« und mehrere Leute seiner Begleitung bei einem Anschlag ums Leben. Bei einem Versuch von Polizisten, die der Führung der Volksrepublik Lugansk unterstehen, seine Autokolonne zu kontrollieren, wurde eine Panzerfaust auf sein Auto abgefeuert. Als Reaktion forderte Igor Strelkow, der ehemalige Oberkommandierende der Volkswehren, die russischen Freiwilligen auf, sich aus den Volksrepubliken zurückzuziehen. Es bestehe die Gefahr, dass sie in einen »Bruderkrieg« hineingezogen würden, der nur dem Gegner nutze. Angesichts der militärischen Abhängigkeit der Volksrepubliken von diesen Freiwilligen ist Strelkows Aufruf gleichbedeutend mit einem Ultimatum an die Konfliktparteien vor Ort, ihre Streitigkeiten beizulegen oder die Konsequenz in Form einer Niederlage gegen Kiew allein zu tragen.

* Aus: junge Welt, Montag, 5. Januar 2015


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage