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Luftangriff auf Donezk

Tote und Verletzte. Ukraine bestreitet Täterschaft. USA schicken Militärs

Von Reinhard Lauterbach *

Die umkämpfte Millionenstadt Donezk ist in der Nacht zum Mittwoch erstmals auch aus der Luft angegriffen worden. Die Stadtverwaltung berichtete über zwei Luftschläge, den einen gegen ein Gebiet mit Stellungen der Aufständischen, den anderen gegen ein Wohnviertel. Mindestens drei Bewohner kamen ums Leben. Bei Aufräum­arbeiten in einem am Vortag angegriffenen Stadtrandbezirk von Donezk wurden weitere sieben Tote gefunden.

Die ukrainische Seite bestritt, mit dem Angriff etwas zu tun zu haben. »Warum müssen wir uns ständig für etwas rechtfertigen, das wir nicht getan haben? Wo sind die Beweise?« sagte ein offensichtlich von Nachfragen genervter Pressesprecher der »Antiterroroperation« in Kiew. Beweise mögen schwer zu beschaffen sein, aber immerhin gibt es Indizien: Erstens besitzen die Aufständischen keine eigene Luftwaffe, und einen eventuellen russischen Angriff hätte die Ukraine schon längst anderweitig propagandistisch ausgewertet. Zweitens hatten Anwohner berichtet, vor den beiden eigentlichen Angriffen sei ein ukrainisches Aufklärungsflugzeug über der Stadt gekreist.

Auch Bodenkämpfe um Donezk werden wahrscheinlicher. Die Truppen der Aufständischen gaben die 15 Kilometer südwestlich gelegene Kreisstadt Marjinka auf und zogen sich an den Stadtrand zurück.

Angesichts der Situation sprach die UN-Flüchtlingshilfe erstmals von einer humanitären Katastrophe in der Ostukraine. Nach ihren Angaben haben die Kämpfe seit ihrem Beginn rund 1300 Tote gefordert. Die Zahl der Flüchtlinge nimmt ständig zu. Allein in der letzten Woche haben nach russischen Angaben knapp 23000 Ukrainer um Aufnahme in Rußland gebeten.

Die Arbeit der ausländischen Experten an der Absturzstelle des malaysischen Passagierflugzeuges wird immer wieder durch Kampfhandlungen unterbrochen. Niederländische Fachleute teilten mit, es habe offensichtlich schon vor ihnen jemand an der Unglücksstelle gesucht. Die USA entsandten unterdessen zwölf Offiziere in die Ukraine. Sie sollen »Ratschläge bei den Ermittlungen geben« und die Stadt Kiew angeblich nicht verlassen. Gleichzeitig äußerten die USA ihre »Besorgnis« über eine neuerliche russische Truppenkonzentration im Grenzgebiet. Es handle sich um jederzeit einsatzbereite Einheiten, sagte ein Pentagon-Sprecher. Er bezifferte ihre Stärke auf 10000 Soldaten und dementierte damit indirekt ukrainische Meldungen, wonach Rußland 45000 Soldaten an der Grenze zusammengezogen habe. Eine NATO-Sprecherin äußerte die Befürchtung, Rußland könne die prekäre Situation der Zivilbevölkerung zum Anlaß nehmen, Friedenstruppen in den Donbass zu schicken. Ein Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums nannte die schnell wechselnden Zahlenangaben des Westens über diese Truppen eine »Seifenblasenauktion«.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 7. August 2014


Unruhe im Hinterland

Meinung zum Krieg in der Ukraine ist gespalten

Von Reinhard Lauterbach **


Nach außen steht die Gesellschaft in dem von Kiew kontrollierten Teil der Ukraine hinter der Staatsführung und der »Antiterroroperation« im Osten des Landes. In den Hauptstadtmedien wird über Sammlungen von Geld und Versorgungsgütern für die kämpfenden Truppen berichtet, in der Westukraine fuhren monatelang Frauen über die polnische Grenze und kauften dort je einen Stahlhelm plus eine kugelsichere Weste für die Truppen, um ein damals noch bestehendes Waffenembargo zu unterlaufen. Homestories präsentieren Ehefrauen von Soldaten, die persönlich Hilfskonvois an die Front organisieren – und machen damit auch klar, daß die ukrainische Armee ihren eigenen Nachschub nicht im Griff hat.

Das Heldengemälde bekommt weitere dunkle Flecken, wenn man in die Lokalpresse schaut. Mal sind es Soldatenfrauen und -mütter, die in der Industriestadt Mikolajiw eine wichtige Straßenbrücke mit der Forderung blockieren, ihre im Donbass eingeschlossenen Männer und Söhne zurückzuholen. Die Aktion war nicht schlecht organisiert. Über Handy meldeten sich während der Blockade die Soldaten aus dem Kampfgebiet und berichteten von den Bedingungen an der Front. Ihre Schilderungen sind nicht geeignet, den in den prowestlichen Medien geschürten Hurrapatriotismus zu bestätigen. Die Rede war von fehlender Verpflegung und nicht passender Munition, es mangele an Trinkwasser, und die örtliche Bevölkerung sei feindselig eingestellt.

Ein anderes Mal sind es Dorfbewohner in der tiefen westukrainischen Provinz, die vor Amtsgebäuden gegen die kürzlich angelaufene dritte Mobilisierungswelle zu den ukrainischen Streitkräften protestieren. Besonders kritisch ist die Lage offenbar im Transkarpatengebiet, wo die dort lebende ungarische Minderheit nicht für die Ukraine sterben will. Aber auch aus Luzk, der Hauptstadt des Bezirks Wolhynien im Nordwesten der Ukraine, berichtete die Lokalzeitung dieser Tage, daß nicht einmal die Hälfte der einberufenen Männer zur Musterung erscheine. Ein Teil sei wahrscheinlich zur Arbeit in Polen, führte die Autorin des Textes zur Erläuterung aus. Andere nutzten schlicht den Umstand aus, daß das Meldewesen in der Ukraine über Jahre vernachlässigt worden sei, so daß der Staat nicht wisse, wo er seine Bürger antreffen könne. Postboten berichten, daß Bürger den Empfang amtlicher Schriftstücke verweigern, in der Annahme, Unkenntnis der Mobilisierungsbefehle schütze vor ihrer Befolgung. Ein Irrtum, wie der örtliche Musterungsleiter der Zeitung erläuterte: Die Strafe für die Entziehung vom Wehrdienst sei gerade von zwei auf fünf Jahre erhöht worden.

Ob hinter der Wehrunwilligkeit in der ukrainischen Provinz eine Stimmung gegen den Bürgerkrieg im allgemeinen steht, ist schwer einzuschätzen. Sicher ist, daß der Krieg eine heftige Gerechtigkeitsdebatte ausgelöst hat. Es gibt keine Demonstration gegen die Mobilisierung ohne die Frage, wo die Söhne der Herrschaften Politiker seien: An der Front, im schönen Kiew oder vielleicht gleich im Ausland? Hinzu kommt, daß offenbar die etwas Wohlhabenderen sich von der Einberufung freikaufen können. Die Preise für eine Untauglichkeitsbescheinigung schwanken von 300 US-Dollar im ärmlichen Luzk über 600 in Lwiw bis zu über 1000 Dollar in Kiew. Solche Listen kusieren im Internet und sorgen für das verbreitete Gefühl, daß es bei der Mobilisierung nicht mit rechten Dingen zugehe.

Inzwischen zeigt diese Debatte politische Folgen. Schon kündigte der Landwirtschaftsminister an, Bauern während der Ernte- und Aussaatperiode von der Einberufung auszunehmen und ihre persönliche Situation stärker zu berücksichtigen. Und Staatspräsident Petro Poroschenko regte gar an, künftig die Stellen der Musterungsleiter mit im Kampf verwundeten Offizieren zu besetzen und dafür die Beamten der Wehrersatzämter an die Front zu schicken. Wenn es so käme, wäre das militärisch völliger Nonsens, weil der Truppe im Donbass anderes fehlt als »Schreibstubenhengste«. Es zeigt aber, daß Poroschenko versucht, den Protesten beizeiten die Spitze abzubrechen, bevor sie sich gegen den Krieg als solchen richten. Denn das Ressentiment gegen die vermeintlich prassende Etappe ist auch bei den kämpfenden Einheiten verbreitet und könnte sich gegen das Kiewer Regime wenden.

** Aus: junge Welt, Donnerstag 7. August 2014


Echter Donezker

Von Detlef D. Pries ***

Die Lage um Donezk sei »kompliziert, schwierig, angespannt«, gab Alexander Sachartschenko zu, »aber nicht kritisch«. Obwohl die Stadt mehrfach von ukrainischen Truppen beschossen wurde, glaubt der neue Regierungschef der »Donezker Volksrepublik« nicht, dass der Versuch einer Erstürmung unmittelbar bevorsteht: »Das dient nur der Einschüchterung der Bevölkerung.«

Der 38-jährige Sachartschenko ist gebürtiger Donezker. Fraglos ein Vorzug gegenüber seinem Vorgänger Alexander Borodai, der nie verhehlte, dass er russischer Staatsbürger ist. Da war es für die Regierung in Kiew ein leichtes zu behaupten, die Aufständischen erhielten ihre Befehle aus Russland, wenn nicht direkt aus dem Kreml. Kurz zuvor von einem mehrtägigen Aufenthalt in Moskau zurückgekehrt, präsentierte Borodai am Donnerstag seinen Nachfolger als »kompetenten, willensstarken Kommandeur« und Freund.

Der Elektromechaniker hatte einst im Schacht gearbeitet, bevor er sich ins Geschäftsleben stürzte. Es habe sich vor allem um Schmuggelgeschäfte gehandelt, wollen ukrainische Medien wissen. Ein Jurastudium beendete Sachartschenko jedenfalls nicht.

Bekannt war er bisher als einer der Führer der Organisation »Oplot« (Bollwerk). Die war 2010 in Charkow entstanden und widmete sich zunächst der Unterstützung bedürftiger Kriegsveteranen und dem Kampf gegen die Verherrlichung von Nazikollaborateuren wie Stepan Bandera. Sachartschenko leitete die Donezker »Oplot«-Abteilung.

In Gegnerschaft zur Maidan-Bewegung, die als faschistisch gelenkt betrachtet wurde, entwickelte sich »Oplot« im Frühjahr zu einer der stärksten Aufstandsformationen im russischsprachigen Osten der Ukraine. Und ihr Kommandeur Sachartschenko wurde Vize-Innenminister der »Donezker Volksrepublik«. Jetzt ist er deren Regierungschef. Sein Vorgänger steht ihm als Chefberater und Vizepremier aber weiterhin zur Seite. Er werde die Republik nicht verlassen, aber als »gebürtiger Moskowiter« sollte er sie nicht anführen, erklärte Borodai.

*** Aus: neues deutschland, Samstag 9. August 2014 (PERSONALIE)


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