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Einflußsphäre verschoben

Ukrainischer Präsident will heute EU-Assoziierungsabkommen unterzeichnen. Mitgliedschaft nicht vorgesehen. Wirtschaftliche Folgen verheerend

Von Reinhard Lauterbach *

Die Unterbrechung dauerte nur sieben Monate und fünf Tage. Was der gestürzte ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch im November wegen der schwerwiegenden Folgen für die ukrainische Wirtschaft und mit der Aussicht auf günstige russische Kredite noch ablehnte, wird sein Nachfolger Petro Poroschenko am heutigen Freitag in Brüssel feierlich unterzeichnen: das Assoziierungsabkommen mit der EU. Im Kampf um die Abgrenzung von Einflußsphären in Osteuropa – heute mit dem vornehmer klingenden Wort »Integrationskonkurrenz« bezeichnet – hat sich die EU durchgesetzt. Rußland und sein Projekt der Eurasischen Zollunion haben das Nachsehen.

Eine künftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist nicht vorgesehen. Kern des Abkommens ist ein Freihandelsvertrag. Wenn Verteidiger des Systems von »Wohlstandsgewinnen durch Freihandel« reden, haben sie zum Teil recht. Sie verschweigen nur, daß sie einseitig verteilt sind: Die Aufhebung der Zölle nutzt immer dem Stärkeren. Die Ukraine aber öffnet sich dem Wirtschaftsraum der EU zu einem Zeitpunkt, in dem sie ohnehin in einer schweren Wirtschaftskrise steckt. Seit 2012 geht die Wirtschaftsleistung zurück, für dieses Jahr erwartet sogar die EU-begeisterte Regierung in Kiew einen Rückgang um weitere drei Prozent. Dabei sind weder die direkten noch die indirekten Kosten des Bürgerkriegs in der Ostukraine eingerechnet. Wenn der Donbass in »Friedenszeiten« nach zurückhaltenden Schätzungen ein Fünftel des ukrainischen Sozialprodukts erzeugte und seine Fabriken derzeit nach offiziellen Angaben der regionalen Behörden nur zwischen fünf und 50 Prozent ihrer Kapazitäten erreichen, dann kann man nach den Regeln des Dreisatzes errechnen, daß die Einbußen in der Größenordnung von mindestens 10 Prozent liegen dürften. Bekannt ist, daß die auf den russischen Markt ausgerichteten Maschinen- und Waggonbaubetriebe der Ukraine schon jetzt bis zu 85 Prozent ihres Geschäfts verloren haben. Zumal Rußland schon angekündigt hat, bestehende Zollvergünstigungen für ukrainische Produkte mit sofortiger Wirkung aufzuheben, um nicht seinerseits im Wege des Re-Exports mit zollfrei aus der EU in die Ukraine eingeführten Waren überschwemmt zu werden. Die vor einigen Tagen gefällte Entscheidung von Präsident Poroschenko, den ukrainischen Unternehmen alle Zulieferungen für das russische Militär ab sofort zu verbieten, dürfte weitere Verluste an Wirtschaftsleistung, Steuereinnahmen und Arbeitsplätzen mit sich bringen. Genau wegen dieser Zusammenhänge hatte Janukowitsch seinerzeit erfolglos versucht, die Konditionen der EU-Assoziierung nachzuverhandeln. Erst danach hatte er das Assoziierungsverfahren ausgesetzt.

Die neue ukrainische Regierung nimmt diese Folgen dagegen leichten Herzens in Kauf. Sie verweist optimistisch darauf, daß schon bis zum Jahresende der Anteil der EU-Länder am ukrainischen Außenhandel den der gesammelten GUS-Staaten übersteigen werde. Selbst wenn dies in Zahlen gerechnet eintreffen sollte, ändert sich dadurch die Struktur des ukrainischen Außenhandels. In die GUS-Staaten exportiert die Ukraine Fertigwaren mit relativ hoher Wertschöpfung, die dort noch zu verkaufen sind. In die EU liefert die Ukraine dagegen unter niedrigen Umweltstandards hergestellte Grundprodukte wie Stahl und Basischemikalien, und sie konkurriert bei arbeitsintensiven Montagearbeiten durch extrem billige Arbeitskräfte. Ob die EU jetzt auch in der Praxis ihren Markt für die bisher stark mit Rußland zusammenarbeitende ukrainische Luftfahrtindustrie öffnet, muß sich noch zeigen. In der Vergangenheit war zum Beispiel der Vorstoß des damaligen Bundesverteidigungsministers Volker Rühe (CDU), das Transportflugzeug AN-70 des Kiewer Flugzeugbauers Antonow für die Bundeswehr und europäische Partnerarmeen anzuschaffen, an politischen Widerständen gescheitert – wegen russischer Zulieferungen zu dieser Maschine. Die militärische Aufgabenstellung – weltweite Interventionsfähigkeit – durfte aber nicht warten, bis die europäische Eigenentwicklung A400M fertig war. So behilft sich die Bundeswehr bis heute mit gecharterten Antonow-Transportern. Doch nachdem der Militär-Airbus jetzt serienreif ist, dürfte es mit dieser Kooperation bald ein Ende haben.

* Aus: junge Welt, Freitag 27. Juni 2014


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