Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kein Frieden im Donbass

Weiter schwere Kämpfe im Osten der Ukraine. Kiewer Truppen zerstören wirtschaftliche Infrastruktur. Zivilisten sollen aus Donezk evakuiert werden

Von Reinhard Lauterbach *

Im Donbass versuchen ukrainische Regierungstruppen, die Regionalhauptstadt Donezk zu umfassen. Sie stoßen dabei allerdings auf heftigen Widerstand der Aufständischen. Wie die ukrainische Seite einräumte, schlugen die Aufständischen einen Angriff bei Artemowsk nördlich von Donezk zurück. Durch Beschuß aus Mehrfachraketenwerfern seien mindestens 30 eigene Soldaten umgekommen. Die Sprecherin des ukrainischen Innenministeriums kleidete ihre Wut in Drohungen: Die für den Beschuß verantwortlichen »blutigen Monster« würden entweder getötet oder zur Verantwortung gezogen. Auch in der östlich angrenzenden Region Lugansk wurde eine Kolonne der Regierungstruppen mit Raketenwerfern angegriffen und erlitt ähnlich hohe Verluste. Ukrainische Blogger dementierten Gerüchte über weit höhere Zahlen an Gefallen auf der Kiewer Seite. Bilder vom Schauplatz der Kämpfe zeigen große Mengen zerschossener Militärtechnik, die mit dem Erkennungszeichen der Regierungstruppen – weißen Streifen – gekennzeichnet ist. Leserkommentare unter den Bildern zeugen von gemischten Gefühlen unter der Bevölkerung des Donbass. Neben gehässigen Äußerungen findet sich auch die Aussage einer Frau: Nach dem, was sie an Bombardements und Artilleriebeschuß durchgemacht habe, wolle sie nur noch, daß das alles aufhöre. Andere verweisen darauf, daß es keine Meldungen über Gefangene mehr gebe: Dies deute darauf hin, daß beide Seiten keine Gefangenen mehr machten.

Angesichts der drohenden Einschließung von Donezk hat die Regierung der »Volksrepublik Donezk« die Evakuierung aller Bewohner, die dies wünschten, angekündigt. Die Aktion werde rein freiwillig sein und in den nächsten Tagen beginnen, sagte der Ministerpräsident der Volksrepublik, Alexander Borodaj, am Donnerstag. Er forderte Rußland auf, sich auf die Aufnahme von mehreren hunderttausend weiteren Flüchtlingen vorzubereiten; schon jetzt sind nach russischen Angaben über 400000, nach Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR immerhin über 100000 Bewohner des Donbass nach Rußland geflohen. In sechs südrussischen Regionen, wo die meisten dieser Flüchtlinge aufgenommen wurden, mußte inzwischen der Notstand ausgerufen werden. Die Weiterleitung der Ukrainer in entferntere Aufnahmegebiete scheint nur schleppend und in kleinen Zahlen zu verlaufen; viele der Flüchtlinge hoffen offenbar nach wie vor, bald in ihre Heimat zurückkehren zu können. Dies erklärt, warum nur relativ wenige von ihnen Asyl oder eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Rußland beantragt haben.

Von der Südgrenze des Aufstandsgebietes meldete die Militärführung einen taktischen Erfolg gegen die Regierungstruppen, die in einem wenige Kilometer breiten Streifen entlang der russischen Grenze vorgestoßen waren. Von den Höhen eines Berges herab seien durch Artilleriebeschuß die Versorgungslinien des Gegners unterbrochen worden.

Die ukrainische Seite setzt offenbar weiter auf die Zerstörung der wirtschaftlichen Infrastruktur des Donbass. Nachdem am Freitag morgen vier Arbeiter, die zur Frühschicht in eines der Bergwerke fuhren, durch Artilleriebeschuß ihres Busses getötet worden waren, beschloß die Leitung, diese und drei weitere Gruben vorläufig zu schließen. Der Direktor des Grubenunternehmens beschuldigte die Kiewer Truppen, die Kohleversorgung des größten Kraftwerks der Region unterbrochen zu haben. Die Vorräte reichten noch für 20 Tage, danach könne es zu Stromknappheit kommen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 12. Juli 2014


Virtuelle Schlachten

Die Aufständischen in der Volksrepublik Donezk sind uneins über das weitere Vorgehen

Von Reinhard Lauterbach **


Nach der Aufgabe von Slowjansk und Kramatorsk wird unter den Aufständischen in der international nicht anerkannten Volksrepublik Donezk (VRD) offenbar über das weitere Vorgehen gestritten. Der Streit scheint so heftig zu sein, daß er an die Öffentlichkeit gelangt ist und es der Ministerpräsident der VRD, Alexander Borodaj, sowie der Militärkommandant Igor Strelkow am Donnerstag für nötig hielten, ihn öffentlich zu dementieren. »Es gibt keine Widersprüche, jetzt ist eine gemeinsame Arbeit in Gang gesetzt«, lautete der Kernsatz der Erklärung Borodajs, die immerhin den Schluß zuläßt, daß diese Zusammenarbeit erst jetzt richtig begonnen hat. Im übrigen enthielt die Webseite der Aufständischen, rusvesna.su, die jetzt die Erklärung Borodajs und Strelkows wiedergab, am Freitag mittag noch Texte der vergangenen Tage, die wenigstens in Andeutungen deutlich machen, worum es geht.

In einem Kommentar mit dem Titel »Der politische Hintergrund des Miesmachens von Strelkow« vertritt der Autor Boris Rozhin die These, der erfolgreiche Ausbruch Strelkows mit etwa 2000 Kämpfern aus Slowjansk und Kramatorsk sowie sein Rückzug nach Donezk sei nicht allen in der Führung der VDR gelegen gekommen. Mancher hätte es, so Rozhin, lieber gesehen, wenn Strelkow und seine Truppe, die zu den kampfkräftigsten der Aufständischen zählt, in Slowjansk heldenhaft untergegangen wären, denn die Anwesenheit Strelkows und seiner Männer in Donezk mache es wahrscheinlicher, daß die Gebietshauptstadt Kampfgebiet werde. Dies aber hätten Rinat Achmetow treue Kräfte insgeheim zu verhindern versucht, um das in Donezk investierte Vermögen des Oligarchen nicht zu gefährden. Auch offizielle Vertreter Rußlands seien für diese Variante eingetreten. Man mag das als Spekulation abtun, aber es fällt in der Tat auf, daß das Leben in Donezk – anders als in der etwa 80 Kilometer östlich gelegenen Gebietshauptstadt Lugansk – bisher weitgehend von den Kämpfen in der Umgebung unberührt geblieben und die Millionenstadt bisher weder von ukrainischer Artillerie noch aus der Luft angegriffen worden ist.

Dreh- und Angelpunkt der internen Konflikte ist offenbar die Unsicherheit unter den Aufständischen über das weitere Vorgehen Rußlands. Während im April und Mai noch die Hoffnung herrschte, daß demnächst direkte militärische Unterstützung von dort kommen würde, scheint sich inzwischen die Gewißheit eingestellt zu haben, daß damit nicht zu rechnen ist – verbunden mit Untertönen der Enttäuschung, im Stich gelassen worden zu sein. Strelkow selbst hatte das in seiner ersten Pressekonferenz nach dem Rückzug angedeutet.

In dieser Situation ergeht sich ein Teil der Publizistik der Aufständischen in militärischen Phantasien wie der eines Vormarsches auf Kiew. Andere Autoren der Webseite beginnen inzwischen, Putin dezent zu drohen: mit einem »patriotischen Maidan« in Rußland selbst, mit einem Ende nach dem Vorbild von Slobodan Miloševic, der auch von »enttäuschten Patrioten« gestürzt worden sei. Der reale Kern dieser Drohungen besteht darin, daß Putin mit seinem Auftreten in Sachen Krim seine Popularität im eigenen Land wieder auf mehr als 80 Prozent hochgeschraubt hatte. Sollte er sich nun aus realpolitischen Erwägungen – die in anderen Texten auf ­rusvesna.su nachvollziehbar dargelegt werden – dem Vorwurf aussetzen, er habe »russische Landsleute verraten«, gerät diese hurrapatriotische Mehrheit in Gefahr. Andererseits zeigen Umfragen, daß die Zahl der Russen, die auch eine direkte Intervention im Donbass akzeptieren würden, in den letzten Wochen deutlich zurückgegangen ist. In der Region selbst hält sich die Kampfeslust ohnehin in Grenzen. Strelkow hat sich schon mehrfach öffentlich darüber beklagt, daß die meisten Männer der Region lieber »vor dem Computer sitzen und Bier trinken« als in die Volkswehr eintreten.

** Aus: junge Welt, Samstag, 12. Juli 2014


Hin- und wegschauen

Amnesty über Folter in Ostukraine

Von Reinhard Lauterbach ***


Die Wissenschaft hat festgestellt, daß Margarine Fett enthält – und Amnesty, daß im Krieg um den Donbass Entführungen, Folter und andere Fürchterlichkeiten stattfinden. Mit Verlaub, verehrte Verteidiger der Menschenrechte: Haben Sie etwas anderes erwartet? Krieg ist, um den chinesischen Weisen Mao Tse Tung zu zitieren, kein Deckchensticken, sondern ein Akt der Gewalt. Die Vorstellung, man könne zwischen einem »sauberen« Krieg und »dreckigen« Kriegsverbrechen trennen, ist eine abgestandene Naivität.

Wenn man den Bericht von Amnesty im Original liest, fällt zunächst auf, daß er sich auf Erlebnisberichte Betroffener stützt – und damit entscheidend davon abhängt, wie die Autoren deren Glaubwürdigkeit einschätzen. Sie räumen selbst ein, daß es keine tragfähigen Zahlen zu den thematisierten Entführungen und Folterungen gibt und daß die Behörden in Kiew keinen Versuch unternommen haben, eine einheitliche Liste der gemeldeten Entführungsfälle zu erstellen – »no attempt to try to create a single register of incidents of reported abductions«. Man kann auch sagen: Da stochert jemand im Nebel.

Gewiß, die Berichte über Entführungen und Mißhandlungen im Osten der Ukraine sind mehr als pure Gerüchte. Journalisten aus dem Donbass räumen ein, daß es in der Region zu Plünderung, Banditismus, Mord und erpresserischen Geschäftsübernahmen gekommen ist. Der Amnesty-Bericht stellt für die gesamte Ukraine einen Zusammenbruch der Rechtsordnung fest und erwähnt, daß im Gefolge mehrerer Amnestien im Laufe des Frühjahrs Tausende Strafgefangene freigelassen worden sind. Einige dienen inzwischen in der Kiewer Nationalgarde, andere liefern sich auf dem Kiewer Maidan Massenschlägereien, die schon zu mehreren Toten geführt haben, noch andere werden auch in ihre alten Gangs im Donbass zurückgekehrt sein. Ein erheblicher Teil der registrierten Entführungen endete nach Berichten örtlicher Medien nach relativ kurzer Zeit damit, daß Lösegelder gezahlt wurden. So auch die zweier russischer Journalisten, die im Juni von einer Einheit der Nationalgarde an einem Kontrollpunkt weit weg vom Kampfgebiet festgehalten und unter Schlägen verhört wurden. Einer verlor dabei sein Gehör. Von diesem Fall ist in dem Amnesty-Bericht nichts zu lesen.

Ebensowenig sind die darin erwähnten »proukrainischen Aktivisten« zwangsläufig friedliche Fähnchenschwenker. Etliche haben – und von Amnesty sogar wiedergegeben – gesagt, ihnen sei die Mitgliedschaft im »Rechten Sektor« vorgeworfen worden. Vielleicht stimmte das ja? Bei anderen handelte es sich bei näherem Hinsehen um Funktionäre der Faschistenpartei Swoboda. Deren Parlamentsabgeordneter Igor Miroschnitschenko läßt es sich nicht nehmen, Aufnahmen von Erniedrigungen und Mißhandlungen politischer Gegner sogar ins Internet zu stellen. Als das drei Monate vor dem Aufstand im Donbass einriß, war es Amnesty keine Reaktion wert. Warum wohl?

*** Aus: junge Welt, Samstag, 12. Juli 2014


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