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Auf dem Weg nach Donezk

Von Verhandlungen keine Rede mehr

Von Klaus Joachim Herrmann *

Einen Sieg über die prorussischen Milizen feierte das offizielle Kiew am Wochenende. Jetzt gerät die Millionenstadt Donezk ins Visier.

Mehrere Explosionen wurden am Sonntag aus den ostukrainischen Großstädten Donezk und Lugansk gemeldet. Die mit 1,1 Millionen Einwohnern fünftgrößte Stadt der Ukraine geriet ebenso wie das knapp 440 000 Einwohner zählende Lugansk in das Zentrum der militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Zentralmacht in Kiew und prorussischen Milizen.

Die ukrainische Armee hatte am Sonnabend die lange hart umkämpfte Stadt Slawjansk erobert und die aufgegebene Ortschaft Kramatorsk besetzt. Die Führung in Kiew nannte die Rückeroberung der beiden Städte »einen der größten Siege« seit Beginn der »Anti-Terror-Operation« Mitte April. »Die Säuberung Slawjansks von den Unmenschen hat überragende symbolische Bedeutung«, zitierte dpa den triumphierenden Präsidenten Petro Poroschenko. Der Kampf gegen die »Terroristen« gehe weiter.

Die Aufständischen räumten keine Niederlage ein. Sie hätten lediglich zum Schutz der Zivilbevölkerung die Stellung gewechselt, sagte ihr Anführer Andrej Purgin. »Das ist ein taktischer Rückzug«, meinte sein Kollege Denis Puschilin, Die Aufständischen hoffen bisher vergebens auf einen Einmarsch russischer Truppen und beklagten bereits Verrat durch den Präsidenten in Moskau.

Die Separatisten rückten laut Agenturberichten in Richtung Donezk ab, um die dortigen Stellungen zu verstärken. Sie sollen allerdings Kräfte in den geräumten Städten zurückgelassen haben. Am Sonntag wurde dort wieder von bewaffneten Auseinandersetzungen berichtet. In einigen Stadtbezirken sei geschossen worden, die Artillerie hätte einige Schläge geführt, berichtete RIA/Novosti unter Berufung auf Einwohner. Die Lugansker »Volkswehr« meldete auf ihrer »Regierungs-Webseite«, sie habe bei Gefechten in Vororten und im Umfeld des Flughafens 130 ukrainische Soldaten getötet sowie ein Il-76-Flugzeug und sieben Schützenpanzerwagen der ukrainischen Armee vernichtet.

In den eroberten Gebieten begann die Armee mit Überprüfungen der Bürger auf eine Zusammenarbeit mit den Rebellen. Es wurden »zahlreiche Festnahmen« gemeldet. In Kiew sprach sich Geheimdienstchef Valentin Naliwajtschenko aber für eine Amnestie in den zurückeroberten Städten aus: »Viele normale Bürger dort erlagen der Propaganda der Separatisten. Sie sollten eine zweite Chance erhalten.«

Russland und die Ukraine erhoben gegeneinander den Vorwurf von Grenzverletzungen. So hieß es in russischen Medien, dass etwa zehn Geschosse am Sonnabend in der Nähe eines russischen Grenzkontrollpunktes eingeschlagen seien. Laut Wassili Malajew, Sprecher der für das Gebiet Rostow zuständigen Grenzschutzverwaltung, war der Posten von ukrainischem Territorium aus beschossen worden. 50 Personen seien mit gepanzerten Fahrzeugen in Sicherheit gebracht worden. Der Grenzkontrollpunkt habe geschlossen werden müssen.

Gegen Verletzungen der ukrainischen Luftgrenze durch Russland hatte am Freitagabend das ukrainische Außenministerium protestiert. Russische Hubschrauber hätten bei Aufklärungsflügen den Luftraum der Ukraine verletzt. Der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, Andrej Parubij, drohte bei Wiederholung mit Abschuss.

Russland seinerseits setzte die Übergabe der den ukrainischen Streitkräften gehörenden Militärtechnik und Waffen von der Halbinsel Krim »bis zur völligen Einstellung der Kampfhandlungen der bewaffneten Kräfte der Ukraine im Osten und bis zu einer friedlichen Regelung der Situation« aus, wie das Moskauer Außenministerium mitteilte. Wegen des Einsatzes von schweren Waffen und Fliegerkräften kämen »zivile Einwohner, darunter auch Kinder, ums Leben und werden Objekte der zivilen Infrastruktur in den Gebieten Donezk und Lugansk zerstört«.

Die bereits für Sonnabend erwarteten Verhandlungen einer Kontaktgruppe kamen am Wochenende nicht zustande. Russlands Außenminister Sergej Lawrow äußerte sich »zutiefst beunruhigt«. Kiew zeigt kein Interesse an Verhandlungen, für die als Ort die belorussische Hauptstadt Minsk im Gespräch war. Andrej Lyssenko vom Nationalen Sicherheitsrat setzte sich erneut für ein Ultimatum ein: »Bei den Gesprächen kann es eigentlich nur um die bedingungslose Waffenabgabe der Kämpfer gehen.«

Von Bundespräsident Joachim Gauck, der bislang noch keinen Antrittsbesuch in Moskau absolvierte, kam Kritik an den sogenannten Putin-Verstehern in Deutschland. Er meinte, die Bevölkerung würde nicht »so genau wahrnehmen«, was das Leben in Russland präge.

* Aus neues deutschland, Montag, 7. Juli 2014


Paradegeneral

Waleri Geletej will die Armee zu Siegen führen

Besser konnte er kaum Tritt fassen. Mit Helm und in Schutzweste zeigte sich der neue ukrainische Verteidigungsminister Waleri Geletej am Sonntag als Sieger über die Rebellen des von Kiew abtrünnigen ostukrainischen Slawjansk. Unmittelbar nach seiner Bestätigung durch das Parlament hatte er am Donnerstag schon zu einer anderen Siegesparade geladen. »Die Ukraine wird siegen!«, gab der General im knappen Befehlsstil aus. »Die Siegesparade wird in einem ukrainischen Sewastopol stattfinden!«

Hier liegt freilich unverdrossen die russische Schwarzmeerflotte. So legte sich der neue Chef also schon mal verbal mit der benachbarten Atommacht an. Die wirklichen Folgen seiner Verheißung mag man gar nicht ernstlich bedenken. Hoffentlich tut er es vor dem Angriffsbefehl selbst. Kommentatoren in der weiten Spannbreite von »Welt« bis »junge welt« offenbarten ungewohnte Nähe der Wertung – von »den »Mund sehr voll genommen« bis »Großmaul«.

Der 46-Jährige war zuvor so eine Art oberster Leibwächter. Er stand jenem Dienst vor, der als, über oder mit Geheim- und Polizeidienst die umfassende Sicherheit von Spitzenleuten und führenden Gremien gewährleistet. Nun soll er der Forderung des neuen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko nach »entschlossenen Kräften« genügen und die Unversehrtheit des Staates wahren. Durch die Abwendung der Halbinsel Krim vom zeitweiligen ukrainischen Mutterland ist diese aber schon gründlich verletzt.

Obwohl er 1987 und 1988 die KGB-Sondergrenztruppe der UdSSR verstärkte, ist der neue Mann aber deutlich nachsowjetischen Zuschnitts. Bindungen wie sie mancher ältere Militär des einstigen Bruderstaates der Russen noch haben mag, sind bei Geletej nicht zu vermuten.

Der neue Minister stieg in der Ukraine und dort wiederum im Bereich des Innenministeriums auf, gewöhnlich eine Umschreibung für Geheimdienst. 1990 absolvierte Geletej die nationale Polizeischule, 1994 die Akademie des Innenministeriums und übernahm 2007 den Personenschutz.

Dabei kommt man berufsmäßig Leuten nahe, die Entscheidungen treffen. 2006 Polizeioberst, ernannte ihn Präsident Viktor Juschtschenko schon 2007 zum Generalmajor, zwei Monate später zum Generalleutnant und 2008 zum Generaloberst – eine wohl beispiellose Paradekarriere für jemanden, der nicht einmal aus den Streitkräften kam. khe

(nd, 07.07.2014)




Poroschenko will »vollständigen Sieg«

Militäroffensive in Ostukraine fortgesetzt. Kiews Truppen in Slowjansk. Rußland fordert Waffenruhe **

Nach der Eroberung der Stadt Slowjansk am Samstag führt die ukrainische Armee ihren Feldzug gegen die »Volksrepubliken« im Osten des Landes mit unverminderter Härte fort. »Dies ist noch kein vollständiger Sieg«, erklärte Präsident Petro Poroschenko am Samstag. Eine Waffenruhe rückt in weite Ferne.

»Die Zeit für ein Feuerwerk ist noch nicht gekommen«, sagte Poroschenko. Für ihn ist der Abzug der Aufständischen aus Slowjansk ein erster großer militärischer Erfolg. Nun müsse die »Umzingelung der Terroristen« noch verstärkt werden, um die Regionen Donezk und Lugansk zu »befreien«, forderte er. Wie diese »Befreiung« vonstatten geht, berichtete am Sonntag die russische Nachrichtenagentur Itar-Tass mit Verweis auf Aufständischen-Milizen: Die Truppen Kiews hätten erneut Wohnviertel mit Artillerie beschossen, mehrere Häuser stünden in Brand, auf den Straßen seien Verletzte und viele Krankenwagen zu sehen.

Die Aufständischen haben sich derweil hauptsächlich nach Donezk knapp hundert Kilometer südlich von Slowjansk zurückgezogen. 150 verletzte Rebellen würden in den Krankenhäusern der Stadt behandelt, sagte der Vizeministerpräsident der »Volksrepublik Donezk«, Andrej Purgin, laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine. Rebellenkommandeur Igor Strelkow warf Rußlands Präsident Wladimir Putin Wortbruch vor. Dessen Zusage, er werde »alle verfügbaren Mittel« zum Schutz seiner Landsleute in der Ukraine einsetzen, entpuppten sich als leere Versprechen, twitterte er am Samstag. Am Vortag des Abzugs hatte Strelkow Moskau um Truppen gebeten, da seinen Einheiten ansonsten »die Zerstörung« drohe.

In einem Telefonat mit seinen deutschen und französischen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier und Laurent Fabius forderte Rußlands Außenminister Sergej Lawrow am späten Samstag abend eine »bedingungslose und dauerhafte Waffenruhe«. Ein Treffen der Kontaktgruppe zur Ukraine kam jedoch nicht zustande. Christian Selz

** Aus junge Welt, Montag, 7. Juli 2014


Befreier und Befreite

Klaus Joachim Herrmann über die Einnahme von Slawjansk ***

Ein »großer Sieg«, wenn auch »kein totaler«, jubelte die neue Obrigkeit in Kiew über die »Befreiung« der ostukrainischen Stadt Slawjansk. Die »Terroristen« hätten für die Missachtung der Waffenruhe ihre »verdiente Strafe« erhalten, freute sich der Präsident und Oberkommandierende. Schoko-Oligarch Poroschenko will den »unvollständigen Sieg« mit noch mehr Krieg vollenden. Dann wäre wohl jene Zeit für sein Feuerwerk, die jetzt »noch nicht gekommen« sei.

Doch solche Siege lösen kein Problem. Sie machen nach dem Kiewer Umsturz den selbstherrlich-provokanten Umgang der Sieger mit den Verlierern nicht ungeschehen, heben die fundamentalen Fehler nicht auf. Den alten Problemen fügen sie neue hinzu. Der Grundkonflikt der Ukraine bleibt ihre innere Zerrissenheit zwischen Ost und West und die äußere zwischen Russland und der EU.

Der wird ohne ernsthafte Zuwendung, langwierige Verhandlungen und schmerzliche Zugeständnisse nicht zu überwinden sein. Das wird im Siegesrausch aber offenbar für überflüssig gehalten – selbst wenn ernst zu nehmende Staaten darauf drängen. Sogar der gern und nicht jederzeit zu Unrecht gescholtene Präsident Putin sieht sich wegen Abkehr vom bewaffneten Kampf des Vorwurfs eines Wortbruchs ausgesetzt. Wenn sich aber die prorussischen Milizen verraten fühlen – und es wohl auch sind –, kann das als ein sicherer Hinweis darauf gelten, dass Gespräche einige Aussicht auf Erfolg hätten.

*** Aus neues deutschland, Montag, 7. Juli 2014 (Kommentar)


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