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Kiew kontra "Terroristen und Kriminelle"

Rechtsextremisten prügelten im Parlament auf Kommunistenchef ein / Vierer-Gespräche angekündigt

Von Klaus Joachim Herrmann *

Im Kampf um die Ostukraine versucht die Regierung hart durchzugreifen. Doch auch Charkow erklärte sich zur »Volksrepublik«. Es droht der Einsatz der »Nationalgarde«.

Es wirkte wie eine Wiederholung der Vorbereitung Kiewer Straßenschlachten. Eine Barrikade vor allem aus Autoreifen, vermummte Männer mit Schilden, Brandflaschen. Schauplatz an diesem Dienstag war in der Ukraine aber das besetzte Gebäude des Geheimdienstes in Lugansk. Neue Zusammenstöße drohten.

Mit einem »Anti-Terror-Einsatz« war am Morgen die ukrainische Übergangsregierung gegen Proteste im russisch geprägten Osten des Landes vorgegangen. Übergangspräsident Alexander Turtschinow drohte vor dem Parlament eine entschiedene strafrechtliche Verfolgung an, wobei er von »Separatisten«, »Terroristen« und »Kriminellen« sprach. Das Strafmaß für derartige Handlungen wurde am gleichen Tag im Parlament auf 15 Jahre erhöht.

In der Nacht war es in Charkow zu Zusammenstößen zwischen prowestlichen und prorussischen Demonstranten gekommen. Hier wurde nach dem Beispiel von Donezk eine unabhängige »Volksrepublik« ausgerufen und ein Referendum über die Zukunft des russischsprachigen Gebiets angekündigt.

Während in Donezk und Lugansk einige Verwaltungseinrichtungen besetzt blieben, wurden in Charkow eines von Spezialkräften geräumt und 70 Menschen festgenommen. Moskau beschwor die Gefahr eines Bürgerkrieges und APN/Novosti informierte, dass Einheiten der Nationalgarde, zu der auch Kräfte des extremistischen »Rechten Sektors« gehören, herangeführt würden.

Eine üble Vorstellung lieferten im ukrainischen Parlament schon mal Abgeordnete der rechtsextremistischen Swoboda-Fraktion. Sie griffen den kommunistischen Fraktions- und Parteichef Petro Simonenko tätlich an. Die Prügelattacke erfolgte in der Debatte über die Lage im Osten. Der KP-Präsidentschaftskandidat hatte die Rechtsaußen für die drohende Spaltung des Landes verantwortlich gemacht.

Moskau erklärte angesichts der verschärften Krise seine Bereitschaft zu Vierer-Verhandlungen mit Washington, Kiew und der EU über die Zukunft der Ukraine. Ein Termin sei bei einem Telefonat mit seinem US-Amtskollegen John Kerry aber noch nicht vereinbart worden, sagte Außenminister Sergej Lawrow. In einem Interview für den britischen »Guardian« erinnerte er, dass der Kreml zu Krisenbeginn für dringende Konsultationen zwischen der Ukraine, Russland und der EU eingetreten, aber Brüssel »kategorisch dagegen« gewesen sei.

US-Außenamtssprecherin Jennifer Psaki äußerte den Verdacht, die Proteste seien »keine spontanen Ereignisse«, sondern offenbar von Moskau »sorgfältig orchestriert«. US-Präsidentensprecher Jay Carney sprach von »starken Beweisen« dafür, dass einige prorussische Demonstranten in die Krisengebiete gebracht und bezahlt würden. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen warnte Russland vor einer Intervention. Die USA entsandten den Zerstörer »USS Donald Cook« ins Schwarze Meer.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. April 2014


Kampf um die Ukraine

Polizeieinsätze der Kiewer Machthaber in Charkiw und Donezk. Oligarch Achmetow bietet sich als Vermittler an. Rußland: US-Söldner im Einsatz

Von Reinhard Lauterbach **


Die Kiewer Machthaber haben am Montag abend mit einer »Antiterroroperation« in der Ostukraine begonnen. In Donezk eroberten Angehörige des ukrainischen Sicherheitsdienstes das am Montag von Demonstranten besetzte Gebäude dieser Behörde zurück, in Charkiw räumten Truppen des Innenministeriums am Montag abend die besetzte Gebietsverwaltung. Etwa 70 der Besetzer wurden nach Angaben der Kiewer Machthaber festgenommen. Wie die Polizei später mitteilte, hatten alle ukrainische Papiere; dies widerspricht den Kiewer Behauptungen, die Proteste seien durch russische Staatsbürger angeheizt worden. Die Räumung lag nach Aussage von Augenzeugen in der Hand auswärtiger Einheiten; die Charkiwer Polizei habe keinen Finger gerührt, berichtete das Internetportal Ukrainskaja Prawda.

In Donezk nahmen die prorussischen Aktivisten die Proklamation ihrer »Unabhängigen Republik Donezk« am Dienstag wieder zurück. Aus der verklausulierten Sprache der Erklärung geht hervor, daß sie damit die Konsequenz aus offenbar fehlender Unterstützung in der regionalen Öffentlichkeit zogen. Einige Demonstranten halten aber weiterhin die Gebietsverwaltung besetzt. Nach Medienberichten verstärkten sie die Barrikaden vor dem Gebäude. In der Nacht zum Dienstag trat vor den Besetzern der Oligarch Rinat Achmetow mit einem Vermittlungsvorschlag auf. Er sagte, er unterstütze alle Forderungen der Demonstranten mit Ausnahme der nach einem Anschluß an Rußland, und sei bereit, seinen Einfluß für eine Kompromißlösung geltend zu machen.

Im ukrainischen Parlament hinderten Abgeordnete der faschistischen Swoboda-Partei am Dienstag den Vorsitzenden der ukrainischen Kommunisten, Petro Simonenko, am Reden. Als Simonenko für eine Föderalisierung des Landes eintrat, zerrten ihn die Faschisten von der Rednertribüne. Der Vorfall endete mit einer der zum Ritual gewordenen parlamentarischen Prügeleien und dem Auszug von Kommunisten und Vertretern der »Partei der Regionen« aus dem Plenarsaal.

Das russische Außenministerium hat die Ukraine unterdessen davor gewarnt, durch den Versuch einer gewaltsamen Lösung die Situation zu verschärfen. In einer Erklärung des Ministeriums aus der Nacht zum Dienstag heißt es, in der Ost- und Südostukraine versammelten sich Kämpfer der Nationalgarde und des »Rechten Sektors«, um die Proteste gewaltsam zu unterdrücken. Sie würden unterstützt durch 150 Söldner der amerikanischen Sicherheitsfirma »Greystone«, die in ukrainische Polizeiuniformen gesteckt worden seien. Für alle eventuellen Opfer trage Kiew die Verantwortung.

Eine Probe ihres »Könnens« boten die rechten Milizen am Montag abend in Nikolajew an der Dnjepr-Mündung. Dort hatten einige hundert prorussische Aktivisten vor der Gebietsverwaltung friedlich für eine Föderalisierung des Landes demonstriert. Eine »Nationale Volkswehr« durchbrach eine Polizeiabsperrung und vertrieb die Aktivisten, wobei zehn von ihnen verletzt wurden.

Die USA schicken erneut ein Kriegsschiff ins Schwarze Meer. Medienberichten zufolge handelt es sich um den mit Flugabwehrraketen ausgestatteten Zerstörer »USS Donald Cook«. Das im spanischen Rota stationierte Schiff soll innerhalb einer Woche am Zielort eintreffen. Mit der Verlegung wolle das Pentagon ein Zeichen der Unterstützung an die Verbündeten in Osteuropa senden.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 9. April 2014


Moskau warnt Ukraine vor Bürgerkrieg

Russland will sich vom Westen nicht die Verantwortung für die Krise zuschieben lassen

Von Irina Wolkowa, Moskau ***


Russland zeigt sich als besorgter Nachbar der Ukraine und fordert ein Ende der Auseinandersetzungen. Der Kreml setzt auf Dialog, aber der Präsident hat auch die Vollmacht zum Truppeneinsatz.

Der Westen solle endlich damit aufhören, Russland die Verantwortung für die Entwicklungen in der Ukraine zuzuschieben, Kiew auf legitime Forderungen des eigenen Volkes reagieren und den ukrainischen Bürgern klare Antworten auf alle Fragen geben. Außenamtssprecher Alexander Lukaschewitsch wusch seine Hände in Unschuld, als russische Radiosender Montagabend ihre regulären Programme unterbrachen und von der Ausrufung unabhängiger »Volksrepubliken« im Osten der Ukraine berichteten. In Donezk hatte ein sogenannter Volksrat Russlands Präsidenten Wladimir Putin sogar schon um die Entsendung von »Friedenstruppen« gebeten.

Angesichts der am Dienstagmorgen ausgelösten »Anti-Terror-Operation« der Übergangsregierung in Kiew verwies die Moskauer Nachrichtenagentur RIA/Nowosti darauf, dass daran auch Kämpfer illegaler paramilitärischer Formationen der rechtsextremistischen Bewegung »Pravy sektor« teilnehmen würden.

Besonders besorgt äußerte sich Moskau indes darüber, dass Kiew gegen die »Separatisten« auch rund 150 Mitarbeiter der US-amerikanischen privaten Sicherheitsfirma Greystone eingesetzt habe. Sie trügen Uniformen der ukrainischen Sondereinheit »Sokol« (Falke), hieß es in einer Erklärung des Außenamts am Smolensker Platz. Das sei eine Provokation. Die Beteiligten würden die Stabilität des ukrainischen Staates sowie das Leben von Zivilisten gefährden und damit eine »riesige Verantwortung« auf sich laden. Die Erklärung schließt mit dem Aufruf an die Konfliktparteien, »beliebige militärische Vorbereitungen« einzustellen. Diese würden die Gefahr eines Bürgerkrieges in sich bergen.

Vor einer weiteren Eskalation der Spannungen warnte auch der Duma-Abgeordnete und Politologe Wjatscheslaw Nikonow, Führungsmitglied der Kremlpartei »Einiges Russland«. Der Einsatz von Truppen könnte »noch stärkere Eruptionen bei der Bevölkerung sowie eine russische Einmischung zur Folge haben«. Der Senat habe das Mandat, das Präsident Putin zu einem Truppeneinsatz in der Ukraine ermächtigt, nicht außer Kraft gesetzt, erinnerte der Politiker.

Der Kremlchef selbst hatte eine solche Möglichkeit nach dem Russland-Beitritt der Krim allerdings ausgeschlossen, Kiew aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass umfassende Rechte für Minderheiten »das beste Unterpfand für die territoriale Integrität der Ukraine« seien.

Noch, glaubt auch Nikonow, seien die Möglichkeiten für eine politische Beilegung der Krise in der Ostukraine nicht ausgeschöpft. Zuvor hatte US-Außenminister John Kerry bei einem Telefonat mit seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow Vierer-Konsultationen angeregt, die einer Deeskalation dienen sollten. Vertreter Russlands, der Ukraine, der Europäischen Union und der USA sollen sich dazu binnen zehn Tagen treffen.

Moskau lehnte bisher zwar Verhandlungen mit der aus russischer Sicht durch einen Putsch an die Macht gekommene und daher illegitime Führung in Kiew ab, ist inzwischen jedoch zu gewissen Zugeständnissen bereit. Vorausgesetzt, Kiew rafft sich zu einer tief greifenden Verfassungsreform unter Teilnahme aller politischen Kräfte und Regionen auf. Dabei müssten der blockfreie Status des Landes und Russisch als zweite Amtssprache juristisch verbindlich festgeschrieben werden.

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. April 2014


Später Dialog

Klaus Joachim Herrmann über die Verhandlungsbereitschaft zur Ukraine ****

In der Ukraine hat sich ein Landesteil der EU anempfohlen, ein anderer bevorzugt russische Obhut. Doch wer in Kiew mit der Macht der Straße die Macht im Staate und die Richtungskompetenz holte, schimpft seine Nachahmer in den Regionen nun Separatisten, Terroristen und Kriminelle. Die Logik der Eskalation kann mit dem Einsatz von Anti-Terror-Einheiten oder gar einer von faschistoiden Kampftrupps durchseuchten »Nationalgarde« inzwischen direkt in den Bürgerkrieg führen.

Doch wird der Kampf wie einst im Kalten Krieg letztlich ausgefochten zwischen jenen beiden Mächten, die sich als einzige zuverlässig gegenseitig auf dreifache Art atomar vernichten können. Sie wollen Einfluss ausweiten oder sichern, geostrategische Interessen durchsetzen oder wahren, keinesfalls aber unmittelbar aufeinander treffen.

EU und NATO dringen forsch in postsowjetische Räume vor. Russland will sie daran hindern. Die Ukraine wurde zur Arena. Darin sind immer mehr Mittel recht. Gern beschuldigt man den Widersacher dessen, was man selbst tut. Nun wollen Washington und Moskau mal wieder miteinander, aber auch mit der EU und der Ukraine über deren Zukunft reden. Allzu lange wurde Moskau genau solch ein Dialog verweigert – dabei hätte es ihn vor dem ganzen Schlamassel geben sollen.

**** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. April 2014 (Kommentar)


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