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Ostukraine macht sich selbstständig

Demonstranten proklamierten »Volksrepublik Donezk« / Zusammenstöße in Charkow

Von Klaus Joachim Herrmann *

Demonstranten im Osten und Süden nehmen Kurs auf eine Föderalisierung der Ukraine und auf Russland. Das Land bleibt in Aufruhr.

Nicht nur MiG-Jagdflugzeuge über der Großstadt Charkow sorgten in der Ukraine am Montag für erhebliche Besorgnis und Unruhe. Die Militärmaschinen absolvierten offiziell aber nur Übungsflüge, wobei auch die als Demonstration verstanden werden mussten.

Für weit größere Unruhe sorgte eine Proklamation. So wurde eine »Volksrepublik Donezk« in der ostukrainischen Großstadt ausgerufen und eine Volksabstimmung über eine Föderalisierung bis zum 11. Mai angekündigt. Demonstranten warnten Kiew vor dem Eingreifen: Dann müsse Russland um die Entsendung einer Friedenstruppe gebeten werden. Etwa 2000 Demonstranten hätten den Beschluss in dem besetzten Gebäude der Regionalverwaltung gefasst, hieß es in Medienberichten.

In den Städten Charkow, Donezk und Lugansk hatten bereits am Vorabend Tausende prorussische Aktivisten Verwaltungsgebäude gestürmt und russische Flaggen gehisst. In Lugansk war das örtliche Geheimdienstgebäude gestürmt worden. Die Miliz wurde in »Kampfbereitschaft« versetzt. Maskierte sollen im Geheimdienstgebäude die Waffenkammer geplündert haben

Der von Kiew eingesetzte Donezker Gouverneur, Sergej Taruta, klagte, dass in dieser Region ein Plan umgesetzt werde, »den Frieden sowie die soziale und wirtschaftliche Stabilität ins Wanken zu bringen«.

Der ebenfalls von der Kiewer Übergangsregierung ernannte Charkower Gebietsverwaltungschef Igor Baluta machte Provokateure von außerhalb für die zugespitzte Lage verantwortlich.

Übergangspräsident Alexander Turtschinow beschuldigte Russland, in einer »zweiten Welle von Sonderoperationen« die Ukraine destabilisieren und die Präsidentenwahlen sabotieren zu wollen. Expremier Julia Timoschenko nannte die Vorgänge eine »direkte Fortsetzung der russischen Aggression«. Allerdings wurde inzwischen der 16 Milliarden Dollar reiche Oligarch Rinat Achmetow, bekannt als Präsident des Fußballklubs Schachtjor Donezk, verdächtigt, ein Hintermann der föderalistischen Bestrebungen zu sein.

Aus Donezk wurden am Nachmittag Schüsse von Unbekannten auf das Zentrum des örtlichen Rundfunks und Fernsehens gemeldet. Vor der Regionalverwaltung in Charkow kam es nach Berichten der Agentur UNIAN zu offenbar harten Zusammenstößen zwischen prorussischen Anhängern einer Föderalisierung der Ukraine und des westlich orientierten Euromaidan. Auf dem »Platz der Freiheit« sei gewaltsam gegen eine Kundgebung unter ukrainischen Fahnen vorgegangen worden. Dabei seien mehrere Menschen verletzt worden.

Mit der Ankündigung »Wir haben einen Plan gegen die Destabilisierung des Landes« hatte sich am Morgen die ukrainische Führung an die Lösung der Krise um den Landesosten und -süden machen wollen. Doch Übergangspremier Arseni Jazenjuk nannte außer der ständigen Information der Regierung keine Einzelheiten. Auf einer Kabinettssitzung beschuldigte er Russland, die Ukraine »zerstückeln« zu wollen. Das Parlament soll an diesem Dienstag über eine Verschärfung der Gesetze gegen »Separatismus« beraten.

Aber es blieb erst einmal bei Feuerwehreinsätzen: Innenminister Arsen Awakow in Charkow, der erste Vizepremier Vitali Jarema in Donezk, der Chef des nationalen Sicherheitsrates, Andrej Parubi, und der Chef des Sicherheitsdienstes, Valentin Naliwaitschenko, in Lugansk.

Innenminister Awakow versicherte über Facebook: »Die Situation wird ohne Blutvergießen wieder unter Kontrolle genommen. Die Miliz wird nicht auf Menschen schießen.« Er kündigte zugleich ein »hartes Vorgehen« gegen alle an, die Staatsangestellte oder Verwaltungsgebäude angreifen würden. Organisatoren und »Aufwieglern zu Massenunruhen« drohten fünf bis acht Jahre Freiheitsentzug, informierte das Innenministerium.

Russlands Präsident Wladimir Putin will am 17. April im Fernsehen zur Krim und der Zukunft der russischsprachigen Regionen der Ukraine Rede und Antwort stehen, kündigte die in Moskau erscheinende Zeitung »Kommersant« an. Eine schmerzliche Wirtschaftsnachricht aus Moskau erreichte die Ukraine aber schon jetzt. Der Import vor allem von Käse und Butter sei ausgesetzt worden, teilte die russische Verbraucherschutzbehörde mit. Grund sei die Verletzung von Hygienevorschriften, betroffen seien sechs ukrainische Unternehmen.

Die Europäische Union beobachte die Lage in der Ostukraine »genau und mit Sorge«, sagte eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton in Brüssel. »Politische Forderungen in der Ukraine müssen gewaltlos verfolgt werden, gemäß den demokratischen Standards und in rechtsstaatlicher Weise«, sagte sie.

Auf der Krim kam es zu einem tödlichen Zwischenfall: Ein russischer Soldat erschoss einen ukrainischen Offizier im Streit, wie Behörden mitteilten. Der russische Soldat sei in einem Wohnheim von dem angetrunkenen 32 Jahre alten Offizier angegriffen und verletzt worden und habe dann die tödlichen Schüsse abgefeuert. Es werde wegen Mordes ermittelt, wurde ein Justizsprecher von Interfax zitiert.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. April 2014


Los von Kiew

Spannungen in der Ostukraine nehmen zu. »Unabhängige Republik Donezk« proklamiert. Rechte randalieren in der Hauptstadt. Tödlicher Zwischenfall auf der Krim

Von Reinhard Lauterbach **


In der Ostukraine haben die Spannungen seit dem Wochenende wieder zugenommen. In Charkiw besetzten Demonstranten die Gebietsverwaltung, ebenso in Donezk. In Lugansk übernahmen sie die Kontrolle über die Verwaltung des Sicherheitsdienstes der Ukraine einschließlich der dort aufbewahrten Waffen sowie über die regionale Filiale der ukrainischen Nationalbank. Sie erreichten auch, daß sechs zuvor verhaftete Aktivisten der prorussischen Seite wieder freigelassen wurden. Am Montag mittag wurde in Donezk eine »unabhängige Republik Donezk« ausgerufen. In Charkiw räumten die Demonstranten am Montag die besetzte Gebietsverwaltung wieder. Der als prorussisch geltende Bürgermeister hatte zuvor versucht, ihnen die Forderung nach einem Referendum über den Anschluß an Rußland auszureden – es gebe für sie keine Grundlage im ukrainischen Recht.

Den Besetzungen waren in allen drei Städten prorussische Demonstrationen mit bis zu 3000 Teilnehmern vorausgegangen. Die Demonstranten schwenkten russische und lokale Fahnen und trugen teilweise auch Bilder des gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Die ukrainische Polizei verhielt sich in allen Fällen passiv, um, wie ein Sprecher in Donezk erklärte, »Blutvergießen zu vermeiden«. Aus Charkiw wurde berichtet, daß ein Teil der Polizisten mit Beifall auf die Aktion der Besetzer reagiert hätte.

Als Reaktion entsandten die Kiewer Machthaber prominente Sicherheitspolitiker in den Osten des Landes, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bekommen. Nach Charkow flog der von dort stammende Innenminister Arsen Awakow, nach Lugansk der der faschistischen Swoboda-Partei zugerechnete Chef des ukrainischen Sicherheitsdienstes, Valentin Naliwajtschenko. Premier Arseni Jazenjuk sagte auf einer Kabinettssitzung in Kiew, im Osten des Landes spiele sich ein russisches Szenario ab; die Proklamation unabhängiger regionaler Republiken solle das Vorspiel zu einem russischen Einmarsch oder zum Anschluß der Regionen an das östliche Nachbarland sein. Eine Föderalisierung der Ukraine, wie sie von Rußland gefordert wird und wie sie offenbar auch in einigen westlichen Regierungen zumindest erwogen wird, schloß Jazenjuk aus; sie wäre das »Ende der ukrainischen Staatlichkeit«. Zu dieser Aussage paßt, daß Jazenjuk nicht, wie man hätte erwarten können, ankündigte, die separatistischen Bewegungen mit aller Härte zu zerschlagen. Die realen Durchsetzungsmöglichkeiten der Kiewer Machthaber im Osten des Landes scheinen derzeit begrenzt zu sein. Im Gebiet Lugansk, wo die Polizei alle Zufahrten in die Stadt abriegelte, besuchten Frauen mit ihren Kindern die Polizeiposten und forderten die Beamten auf, keine Kämpfer der »Nationalgarde« oder des »Rechten Sektors« in die Region zu lassen. In Kiew veröffentliche Oleg Tjagnibok von der Swoboda-Partei eine Erklärung, in der er zur »Erstickung« der »Umtriebe von Putins Agenten« aufrief und sofortige Säuberungen in den Behörden in der Ostukraine verlangte; die dort tätigen Amtsträger hätten gegenüber dem Separatismus versagt. In Kiew selbst stürmten Anhänger von »Euromaidan«, »Automaidan« und »Rechtem Sektor« das Gebäude des Obersten Gerichts der Ukraine. Sie verhinderten damit, daß ein Kongreß der ukrainischen Richterschaft stattfinden konnte. Die im Gebäude angetroffenen Teilnehmer des Treffens wurden gewaltsam auf die Straße gesetzt, wo sie durch ein Spalier der »Freiheitskämpfer« Spießruten laufen mußten, bespuckt, beschimpft und geschlagen wurden.

Auf der Krim kam es in der Nacht zum Montag zu einem tödlichen Zwischenfall. Eine Gruppe demobilisierter ukraine-treuer Soldaten randalierte offenbar vor dem Eingang einer Kaserne der russischen Schwarzmeerflotte. Russische Soldaten eröffneten das Feuer und töteten einen der Ukrainer; die russische Seite beschrieb den Toten als »betrunkenen Rowdy«; die ukrainische Darstellung hob hervor, daß er unbewaffnet gewesen sei, räumte aber ein, daß es zu »verbalen Auseinandersetzungen« mit den russischen Wachtposten gekommen war.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 8. April 2014


Kein Maidan für jeden

Klaus Joachim Herrmann über den Aufruhr im Osten der Ukraine ***

»Massenunruhen« sind strafbar in der Ukraine. »Separatismus«, Referenden und schon gar die Besetzung von Ämtern sind es auch. »Separatisten« sind für das provisorische Regime all jene, die nicht wie Kiew wollen. Proteste heißt man bis in deutsche Medien hinein »Krawalle«, es wären dort Ruhe- und Ordnungsstörer oder auch bezahlte Provokateure unterwegs.

Noch unlängst wurde allseits gelehrt, dass in der Ukraine »das Volk« über allem stehe. Der Protest auf dem Maidan wurde als dessen allmächtige Verkörperung von Staatsbesuchern aus den USA, Deutschland und der EU gepriesen. Sein pro-europäischer Wille sollte geschehen und geschah: auf Barrikaden, mit Knüppel, Brandsatz und Schusswaffe. So stürzten Präsident und Regierung, nahm sich die Opposition die Macht. Dazu hatte ja die Mehrheit gefehlt. Doch nun sprach das demonstrierende Volk als Souverän.

Für die EU entschieden sich Kiew und der Westen, nicht Osten noch Süden. Die blieben, wo sie sind: nah an Russland. Eine »Übergangsregierung der nationalen Einheit« war den neuen Machthabern die Mühe nicht wert, nicht Dialog und nicht die Einbeziehung russischsprachiger Landesteile. Dabei geschieht in der Ost- und Südukraine etwa das Gleiche wie in Kiew. Doch statt Forderungen ernst zu nehmen folgt der Heroisierung des Maidan die Dämonisierung von Charkow und Donezk. Maidan gibt es nicht für jeden.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. April 2014


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