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Angekündigte "Befreiung" von Donezk blieb aus

Ukrainische Armee setzt Angriffe auf Städte und Ortschaften fort / Rechter Sektor will gen Kiew und gegen die »Konterrevolution« ziehen

Von Klaus Joachim Herrmann *

Die Kämpfe in der Ostukraine dauern an, die Hilfe stockt und gegen Kiew macht der Rechte Sektor mobil.

Die von Kiew angekündigte »Befreiung« des ostukrainischen Donezk von »Terroristen« blieb am Wochenende aus. Eingestanden wurde der Tod von zehn Zivilisten in 24 Stunden. Angriffe seien auf ein halbes Dutzend Städte und Ortschaften geführt worden. Insgesamt habe es an 17 Orten des Donbass bewaffnete Zusammenstöße gegeben, berichteten ukrainische Medien. Der Sicherheitsrat hatte am Freitag siegessicher verkündet, der Sieg über Donezk »dauert keine zwei Tage« mehr. Doch wurde lediglich gemeldet, es sei über dem Milizrevier eines Stadtbezirkes wieder die ukrainische Fahne gehisst worden.

Aus Lugansk berichteten Einwohner von schwerem Artilleriebeschuss. Der wurde prompt vom Stab der »Anti-Terror-Operation« der ukrainischen Regierung geleugnet: »Wohnviertel der Stadt wurden und werden nicht beschossen.« Laut Einwohnern stand der Baumarkt in Flammen. Berichtet wurde von der Stadtverwaltung über eine »kritische Situation«. Wasser- und Energieversorgung seien zusammengebrochen, es gebe nur noch die »allernotwendigsten« Lebensmittel und keine Telefonverbindungen. Auf der Nachrichtenseite der regierungsfreundlichen Agentur UNIAN war ein Foto mit dem Blick aus einer Hausruine auf eine menschenleere Straße zu sehen.

Der Hilfskonvoi Russlands mit seinen über 280 zum Teil fabrikneuen Kamas-Lkw steckte am späten Sonntagnachmittag immer noch an der ukrainischen Grenze fest. Kiew habe die Hilfe »akzeptiert«, nun ging es angeblich um Ladungskontrolle und Sicherheitsgarantien. Über Ukrainerinnen, die buchstäblich mit Milch und Brot ebenfalls seit Tagen nicht als Helferinnen bis zu ihren Verwandten nach Lugansk kamen, berichteten AFP-Reporter. Einige der Ukrainerinnen würden schon länger in Russland leben, andere seien jüngst vor den Kämpfen geflohen – und wurden in Russland wieder von der Gewalt daheim eingeholt. »In Moskau habe ich jeden Tag vor dem Fernseher geweint«, erzählte Tatjana.

»Wir haben Artillerieschüsse gehört, immer deutlicher«, erzählte die 57-jährige Olga den Kollegen. »Die Rebellen haben uns dann angehalten, und als sie gesehen haben, dass wir nur Frauen sind, Zivilisten, haben sie uns gezwungen, nach Russland zurückzufahren.« Das Gebiet sei zu gefährlich. »Sie hatten vielleicht Angst, dass unser Wagen mit den russischen Hilfslieferungen verwechselt und von der ukrainischen Armee angegriffen wird.«

In die Ukraine hinein kam allerdings nach offiziellen Angaben ein weiterer russischer Militärkonvoi mit drei Raketenwerfern. Er sei in das ukrainische Dorf Diakowa vorgerückt und weiter Richtung Nyschni Nagoltschik in der Region Lugansk gefahren, erklärte der ukrainische Militärsprecher Andrej Lyssenko. Zudem habe es binnen 24 Stunden zehn Verletzungen des ukrainischen Luftraums durch russische Drohnen gegeben. Bestätigungen gab es dafür – wie schon in zahlreichen anderen Fällen – nicht.

Als sicher können wüste Ausfälle des faschistischen Rechten Sektors gelten, der am Sonnabend Präsident Petro Poroschenko ultimativ in einer Erklärung auf der Webseite mit dem Abzug seiner Kämpfer von der Front im Osten, der Mobilisierung von Reserve-Bataillonen und deren »Marsch auf Kiew« drohte, falls nicht in 48 Stunden Forderungen der Ultranationalisten erfüllt würden. Freizulassen seien alle festgenommenen Mitglieder der Bewegung, Ermittlungen gegen sie einzustellen. Erbeutete und dann »beschlagnahmte« Waffen seien zurückgeben sowie »anti-ukrainische Kräfte« aus dem Innenministerium zu entlassen. Dort befinde sich die »Avantgarde der inneren Konterrevolution«.

Der Rechte Sektor habe dem gewählten Präsidenten kein Ultimatum zu setzen, wiegelte ein Vertreter des Innenministeriums ab. Wenn er Waffen nicht über die Grenzen der »Anti-Terror-Operation« hinaus trage und die Gesetze achte, gebe es zum Rechten Sektor und seinem Chef Dmitro Jarosch doch gar »keine Fragen«.

* Aus: neues deutschland, Montag 18. August 2014


Kiewer Kriegsente

Falschmeldung aus der Ostukraine

Von Rainer Rupp **

In einem seiner letzten Interviews hat der am Wochenende verstorbenen Publizist Peter Scholl-Latour konstatiert: »Die Ukraine-Berichterstattung des Westens ist falsch.« Daß man den Behauptungen der von Neofaschisten durchsetzten Regierung in Kiew nicht trauen kann, hat nun auch der Spiegel zaghaft eingeräumt. Wie alle anderen Medien war auch das Internetportal des Wochenmagazins vollkommen unbesonnen auf die Hunnenmeldung aus Kiew vom Freitag nachmittag hereingefallen, die ukrainische Armee habe auf ukrainischem Gebiet einen russischen Militärkonvoi teilweise zerstört. Die Angst vor einer weiteren Eskalation in der Ostukraine wuchs, weltweit rutschten die Börsenkurse ab. Mit einer gehörigen Prise Heuchelei korrigierte sich Spiegel online am Samstag und stellte die rhetorische Frage: »Kann eine mögliche Falschmeldung aus einem Konflikt einen Krieg entzünden?« Natürlich, wenn sogenannte Qualitätsmedien ständig kritiklos die Kriegsstimmung anheizen.

Entschuldigend verweist man beim Spiegel darauf, daß auch NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen »in seiner wie üblich vorpreschenden Art« sofort den »Einfall« der russischen Armee in die Ostukraine bestätigt habe. Und selbst die Amerikaner hätten von einer »russischen Militärintervention« gesprochen. Natürlich, die Amerikaner lügen nie. Und was die Stellungnahmen eines NATO-Generalsekretärs betrifft, so wurden sie schon zu Zeiten des Kalten Krieges in der Regel kritiklos – wenn auch manchmal mit gespieltem Händeringen – vom Spiegel verbreitet.

Tatsächlich sah es am Wochenende nach einem Kriegsbeginn zwischen Rußland und den westlichen Schützlingen in Kiew aus. Das Außenministerium Großbritanniens hatte den russischen Botschafter in London einbestellt, um gegen den angeblichen Militäreinfall in der Ukraine zu protestieren. Schließlich hatten britische Journalisten angeblich eine reguläre russische Panzerkolonne beim Überschreiten der Grenze beobachtet, und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte von deren »teilweiser« Vernichtung gesprochen. Beweise dafür wurden bisher nicht vorgelegt. Laut CNN kann nun auch das Weiße Haus die Zerstörung einer russischen Militärkolonne »nicht bestätigen«.

Tatsächlich deutet alles darauf hin, daß auch Kiews zweite Großoffensive gegen die Volksmilizen im Osten nach anfänglichen Erfolgen zu einem Desaster führt. Wie der stellvertretende Ministerpräsident der international nicht anerkannten Volksrepublik Donezk, Andrej Purgin, am Freitag abend gegenüber Interfax erklärte, sind in den vergangenen Tagen »etwa hundert« Panzerfahrzeuge der ukrainischen Streitkräfte ausgeschaltet worden. Laut anderen Meldungen befinden sich viele demoralisierte Verbände in Auflösung. Kiew wollte wohl dringend notwendige Militärhilfe vom Westen mit einer hochbrisanten Falschmeldung erzwingen.

** Aus: junge Welt, Montag 18. August 2014


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