Angst vor neuer Eskalation
Besuch in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk: Im Osten der Ukraine versucht die Bevölkerung den zivilen Alltag nach monatelangem Krieg zu organisieren
Von Martin Dolzer *
Wie sieht das Leben in der im Osten der Ukraine gut ein Jahr nach der Proklamation der »Volksrepublik Donezk« (DNR) und der »Volksrepublik Lugansk (LNR) aus? Nach der Proklamation der international nicht anerkannten Republiken am 11. und 12. Mai 2014 hat die prowestliche Führung in Kiew die Region mit Krieg überzogen, Oppositionelle und Andersdenkende werden systematisch verfolgt und ermordet. Am Wochenende wurde Alexej Mosgowoj, der Kommandeur einer kommunistischen Kampfeinheit, von »Spezialkräften« getötet.
Trotz der Isolierung beginnen die Menschen im Donbass, ihr Leben in der Provinz zu organisieren. Zur Vorbereitung einer juristisch einwandfreien Verstaatlichung wurden Banken, Energieunternehmen, Teile der Industrie (Kohlebergbau und Metallindustrie) unter die Verwaltung der Volksrepubliken gestellt. Auch Teile der Landwirtschaft sind mittlerweile kollektiviert. Andere befinden sich noch in privatem Besitz. Landwirtschaftsminister Maxim Sawenko erklärte im Gespräch mit dem Autor, dass es sich um einen schrittweisen Prozess handelt, bei dem Kleinunternehmen vorerst ausgenommen sind. Ein Bergarbeiter berichtete, dass Anfang März 2015 in einem damals noch privaten Bergwerk aufgrund der verwertungsorientierten Produktion und der dadurch bedingten Aushebelung der Sicherheitsstandards bei einer Gasexplosion 36 Menschen gestorben waren. Durch Artilleriebeschuss waren bereits Schäden entstanden, die aber dann nicht beseitigt wurden. Nach dem Unglück beschloss die Regierung, das Bergwerk unter staatliche Verwaltung zu stellen. Die Verantwortlichen wurden inhaftiert.
Bildung, ein funktionierendes Sozialsystem und das respektvolle Zusammenleben aller Bevölkerungs- und Religionsgruppen seien zentrale Anliegen der angestrebten Gesellschaftsgestaltung, so Minister Sawenko. Ein antifaschistischer Grundkonsens sei die Grundlage. Sechs der 17 Ministerien der DNR sind von Frauen besetzt, darunter die Ressorts Wirtschaft, Finanzen, Justiz sowie Soziales und Arbeit. Auch in den bewaffneten Einheiten gibt es Kämpferinnen und Kommandantinnen.
Wegen der Blockadepolitik Kiews, der EU und des monatelangen Krieges sind normale wirtschaftliche Beziehungen, außer – eingeschränkt – denen zu Russland, für die eigentlich reiche Region nicht realisierbar. In der DNR mangelt es deshalb an wesentlichen Artikeln der Grundversorgung. Probleme bestehen auch bei der Zahlung von Pensionen und Gehältern im öffentlichen Dienst. Trotz alledem organisieren die Menschen Kultur- und Sportveranstaltungen und haben teil am politischen Leben.
Auf dem Weg von der russischen Grenze nach Donezk sind unzählige zerstörte Häuser, Schulen und industrielle Gebäude zu sehen. Hier hatten schwere Kämpfe stattgefunden. Mittlerweile sind diese Gebiete unter Kontrolle der DNR und befriedet. »Da hier hauptsächlich die regulären Truppen der ukrainischen Armee und keine faschistischen Bataillone kämpften, gibt es nicht ausschließlich eine Politik der verbrannten Erde und Vernichtung«, berichtet ein Anwohner. Ein Mitarbeiter der DNR-Regierung ergänzt: »In manchen Gegenden sind sämtliche Gebäude beschädigt oder zerstört. Die Versorgung mit Strom und Wasser und der Aufbau von Fabriken sind erste zentrale Aufgaben, die wir umsetzen. Aufgrund der Stabilisierung kehren mittlerweile erste Geflohene wieder zurück.«
In der Volksrepublik Lugansk (LNR) ist die Ausgangssituation ähnlich wie in Donezk. Der Bürgermeister von Swerdlowsk, Andrej Suchatschow, berichtet, dass es an allem mangelt. An medizinischer Versorgung, an Medikamenten, an der Ausstattung von Bildungseinrichtungen und Kindergärten. Die Verkehrsinfrastruktur liegt darnieder. Die Krankenhäuser in der Region befänden sich in einem »humanitären Notstand«. Es fehlte an Herzmedikamenten und Operationsinstrumenten, aber auch Mullbinden, Desinfektionsmittel, Antibiotika und Berufskleidung würden benötigt. Die Volksrepubliken seien auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Im Sommer 2014 fand in Swerdlowsk eine wochenlange Schlacht um die Stadt und den Zugang zur Grenze zu Russland statt. Obwohl die Verteidiger sich aus der Stadt heraus begeben hätten, um Zivilisten zu schützen, habe die ukrainische Armee das Zentrum beschossen. Sechs Zivilisten wurden den Angaben zufolge von ukrainischen Scharfschützen erschossen, ein Linienbus durchsiebt, zahlreiche Landwirte ermordet. Mittlerweile ist die ukrainische Armee aus Swerdlowsk vertrieben, die Front 180 Kilometer entfernt.
Es ist absehbar, dass die Regierung in Kiew den Krieg erneut eskalieren will. Präsident Petro Poroschenko äußerte sich mehrfach in diese Richtung, Gefechte finden an mehreren Orten nahe Donezk und der offiziell demilitarisierten Zone statt. Und wieder wird um die Stadt Mariupol gekämpft. Der in Minsk vereinbarte Abzug schwerer Waffen wurde von der ukrainischen Armee und dem faschistischen Freikorpsbataillon »Asow« nicht umgesetzt. »Minsk II wird von Kiew genutzt, um sich auf eine große Offensive vorzubereiten«, ist immer wieder zu hören. In Mariupol und Umgebung, vor allem im Ort Schirokino, ist offenbar jetzt schon geplant, die militärische Überlegenheit über die Verbände der DNR zu erlangen. Ein solches Vorhaben war Anfang des Jahres bei Donezk und im Kessel von Debalzewo gescheitert.
Martin Dolzer ist Abgeordneter der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft. Er reiste vom 9. bis zum 16. Mai mit einer Delegation aus Teilnehmern unterschiedlicher antiimperialistischer, anarchistischer, exilrussischer und sozialistischer Organisationen in die Volksrepubliken Donezk und Lugansk, brachte Spenden in ein Kinderheim in Swerdlowsk, sprach mit verantwortlichen Politikern und nahm an einem internationalen Fußballturnier in Donezk teil.
* Aus: junge Welt, Mittwoch, 27. Mai 2015
Kriegsverbrechen in Kiews Polizeistaat
Die Ukraine wird »mehr und mehr zu einem Polizeistaat«. Das konstatierte am vergangenen Freitag der stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Wolfgang Gehrcke. Hintergrund war die Entscheidung der prowestlichen Führung in Kiew, Verpflichtungen aus Menschenrechtserklärungen »vorläufig auszusetzen«. Das widerspreche allen europäischen Standards und auch dem der Ukraine angebotenen Assoziierungsabkommen, so Gehrcke. Und weiter: »Nach der neuen Gesetzgebung können ›Verdächtige‹, auch politisch Verdächtige, ohne richterliche Entscheidung über mehr als 72 Stunden festgehalten werden. Das vom ukrainischen Parlament beschlossene Gesetzespaket gegen kommunistische Propaganda und Symbolik lässt eine Kette von Denunziationen, willkürlichen Verhaftungen und Prozessen erwarten. Das Tragen eines roten Sterns (Sowjetsterns) und das Singen der russischen Nationalhymne sollen mit Haftstrafen zwischen fünf und zehn Jahren geahndet werden.«
Während seiner Delegationsreise im Donbass Mitte Mai wurde dem Hamburger Linke-Politiker Martin Dolzer über Kriegsverbrechen durch faschistische Bataillone berichtet. Augenzeugen zufolge wurden mehrere Kämpfer der Lugansker Einheiten nahe Swerdlowsk von einem faschistischen Bataillon festgenommen, gefoltert und hingerichtet. Nach dem Brechen und Zertrümmern unzähliger Knochen legten die Faschisten Granaten unter die Körper der Gefangenen und zündeten sie. »Die Schilderungen werden durch forensische Gutachten bestätigt«, so Dolzer.
Ein Kriegsverbrechen des Freikorpsbataillons »Asow« auf einem Stützpunkt nahe Mariupol sei auf Video festgehalten. Dolzer: »Die faschistischen Kämpfer kreuzigen einen Gefangenen, der von ihnen als Separatist bezeichnet wird. Sie fixieren das Opfer mit Klebeband, durchschlagen die Hände mit großen Nägeln, stellen das Kreuz auf – und zünden den Menschen an. Das Verbrechen wurde auf Handyvideo aufgezeichnet. Das Video ist Experten zufolge echt, die Handlung nicht gestellt.« (jW)
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