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China ruft eindringlich nach politischen Lösungen

Peking steht zum Prinzip der Nichteinmischung, nicht zuletzt, weil es weiter an gedeihlichen Wirtschaftsbeziehungen interessiert ist

Von Werner Birnstiel *

Die chinesische Führung verlangt, bezogen auf die ukrainische Krise, einen strikten Kurs der Gewaltlosigkeit und des Spannungsabbaus.

China hält sich zwar im Hintergrund, spielt aber eine gewichtigere Rolle im Ringen um die Ukraine und das Krim-Referendum vom Sonntag, als es auf den ersten Blick erscheint. So forderte Präsident Xi Jinping in Telefonaten mit US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang letzter Woche »Ruhe und Zurückhaltung«, verwies auf die komplexe Lage in der Ukraine, wo die Differenzen allein politisch und mit diplomatischen Mitteln zu lösen seien. Jeglichen Einsatz militärischer Gewalt lehnt Chinas Führung also ebenso strikt ab wie Sanktionen der USA und der EU gegen Russland. Wohlbedacht hatte Außenminister Wang Yi am selben Tag die Beziehungen China – Russland als »in der besten Phase ihrer Geschichte« bewertet. Am Freitag enthielt sich China nun der Stimme im UNO-Sicherheitsrat zur von den USA vorgelegten Ukraine-Resolution, am Montag rief Außenamtssprecher Huang Lei wiederum dazu auf, in der Krim-Frage für eine Milderung der Spannungen einzutreten und eine »politische Lösung im Rahmen des Gesetzes und der Ordnung« zu finden.

Für China ist die Ukraine vor allem aus geostrategischer Sicht von Bedeutung, ebenso als zukünftiger Wirtschaftspartner – beides allerdings dem Verhältnis zu Russland weit nachgeordnet. Fakten unterstreichen das: So haben sich die Beziehungen Chinas zur Ukraine vor allem seit 2008 spürbar entwickelt. Präsident Viktor Janukowitsch erhielt im September 2010 einen Viermilliardendollar-Kredit für Infrastrukturprojekte. Im Juli 2012 wurde ein Kredit über drei Milliarden Dollar zur Entwicklung der ukrainischen Landwirtschaft bewilligt, im März 2013 kamen über 1,5 Milliarden Dollar hinzu.

2012 begann die Lieferung von Mais aus der Ukraine, 2013 wurden über vier Millionen Tonnen Getreide nach China exportiert. Noch im Dezember 2013 erhielt Janukowitsch beim Staatsbesuch in China Zusagen für Investitionen und Aufträge in Höhe von acht Milliarden Dollar. Bereits 1998 hatte China der Ukraine einen Flugzeugträger abgekauft und bis 2012 modernisiert. Die »Liaoning« ist Chinas einziges Schiff dieser Art. Pekings erste trägergestützte Kampfjets Shenyang J-15 basieren auf der russischen Su-33, die 2001 von der Ukraine gekauft wurde. Und Chinas modernster Zerstörer ist mit weiterentwickelten Gasturbinen ausgestattet, die 1990 aus der Ukraine importiert wurden.

Wichtiger ist für China aber die politische Komponente der Entwicklung, vor allem wie unverhohlen die USA und die EU ihren Einfluss auf die Ukraine ausdehnen wollen. Peking lehnt daher die Spaltung des Landes in pro-EU- und pro-russische Kräfte bei gleichzeitiger Missachtung der traditionellen Bindungen zwischen Russland und der Ukraine ab, ebenso die westliche Ignoranz der russischen Weigerung, ein Heranrücken der NATO an russisches Kernland zu dulden. Peking ist aus gutem Grund gegen modernisierte Varianten der US-Eindämmungspolitik, denn es sieht sich gegenwärtig in Ost- und Südostasien durch die verstärkte 7. US-Flotte im Westpazifik und im Indischen Ozean sowie die US-Militärpräsenz in Japan, Südkorea, auf den Philippinen, in Singapur und Australien bedroht.

Das Krim-Referendum ist für China von prinzipieller Bedeutung: Es bleibt bei seiner Politik der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten der Ukraine und Russlands. Ebenso steht China zu dem Referendum als Bekenntnis der Mehrheit der Krim-Bevölkerung für ein Zusammengehen mit Russland. Zugleich ist diese Entwicklung für Peking aber auch ein Lehrstück angesichts eigener Probleme mit separatistischen und terroristischen Attacken in Chinas Autonomen Gebieten Tibet und die Uiguren-Region Xinjiang, die aus dem Ausland geschürt werden.

Aus den genannten Gründen kann Peking die Entwicklung in der Ukraine und auf der Krim nach dem Referendum gelassen sehen: Die Ukraine wird an China als Wirtschaftspartner mindestens so stark wie bisher interessiert sein. Und falls die EU und die USA Sanktionen gegen Russland verhängen – China wäre der lachende Dritte beim Gas-, Öl- und Rohstoffbezug aus Russland sowie bei gegenseitigen Lieferungen von Waren und Dienstleistungen. Beide Länder können mittlerweile sehr viel kompensieren auf Feldern, wo vor einigen Jahren Lieferembargos noch größere Wirkung erzielten. Die Kräfteverhältnisse ändern sich, vor allem die USA werden darauf eingehen müssen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 18. März 2014


Apropos Krim: Zurück zum Völkerrecht?

Anregungen zur Deeskalation des Streits um die Rechtmäßigkeit von Unabhängigkeitserklärungen / Die politische Realität ist auch ein Spiegelbild des Zustands der UNO

Von Kai Ehlers **


Geht es bei der Krim-Frage wirklich um das Selbstbestimmungsrecht der Völker? Ist das, was Völkerrecht genannt wird, nicht eigentlich eine Völkerpflicht?

Die Positionen stehen sich hart gegenüber. Russland verletze mit seinem Vorgehen auf der Krim das Völkerrecht, sagen die einen. Es bleibe alles im Rahmen des Völkerrechts, erwidern die anderen. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich die Stimmen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Argumenten um Verständnis für den von ihnen im Übrigen nicht bestrittenen Bruch des Völkerrechts werben. Bei all dem fehlt es nicht an juristischen Spitzfindigkeiten.

Aber geht es da wirklich um Recht der Völker? Wohl eher nicht. Eher wird an dem Dilemma um die Verletzung oder Nichtverletzung des Völkerrechts deutlich, dass die Berufung auf das Völkerrecht, sei es pro oder contra, nur ein Versuch ist, die rechtsfreie Leere notdürftig zu verkleistern oder auch einfach für eigene Zwecke zu nutzen, die im Zuge der heutigen globalen Umbrüche und Machtverschiebungen in den internationalen Beziehungen, entstanden ist – wobei sich die beängstigende Frage stellt, ob die politischen Akteure sich mit ihrem Hickhack um Einhaltung oder Nichteinhaltung des Völkerrechts nur gegenseitig oder ob sie die Öffentlichkeit täuschen. Oder, was noch beängstigender wäre, ob sie selbst nicht durchschauen, auf welchem dünnen Seil der globale Wettkampf heute ausgetragen wird.

Es stellt sich die Frage: Was ist gemeint, wenn von Völkerrecht gesprochen wird? Muss man nicht genauer von Staatenrecht sprechen, noch genauer von einem Gewaltmonopol, das die Staaten über die in ihren Grenzen lebenden Völker oder Minderheiten ausüben? Was Völkerrecht genannt wird, ist in Wirklichkeit eine Völkerpflicht. Sie verlangt Unterordnung unter die Staatsräson und stellt eine Lösung aus dem jeweiligen Staatsverband unter strikte Ausnahmeregelungen. Von »Notrecht« ist die Rede, das im Falle schwerer Menschenrechtsverletzungen oder einer Illegitimität des Staates zur Selbstverteidigung von den unterdrückten oder verfolgten Bevölkerungsgruppen in Anspruch genommen werden könne, dies allerdings auch erst nach entsprechenden Nachweisen.

Das heutige Völkerrecht ist im Übrigen nicht nur Staatenrecht, es ist zudem in den Grenzen von Nationen definiert. Tatsache ist aber, dass der Nationalstaat als souveränes Rechtssubjekt spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg durch neu entstandene gesellschaftliche Organisationsformen Konkurrenz bekommen hat. Supranationale Organisationen wie die Europäische Union, wie international agierende Nichtregierungsorganisationen, wie vor allem aber die global organisierten Monopole und internationalen Kapitalorganisationen, also Internationaler Währungsfonds, Welt- bank, Welthandelsorganisation und andere, haben die Souveränität der Nationalstaaten in zunehmendem Maße eingeschränkt und deren frühere Bedeutung als die entscheidende Bezugsgröße internationaler Beziehungen relativiert. Mit der geplanten transatlantischen Freihandelszone wollen deren Träger die Rechtshoheit von den Nationalstaaten gänzlich auf die Ebene der global agierenden Monopole verschieben, so dass die Staaten zu ausführenden Organen der Monopolordnung werden. Völkerrecht würde in diesen Plänen durch globales Korporationsrecht ersetzt.

Die politische Realität der zurückliegenden Jahrzehnte hat das ihre dazu beigetragen, dass das Völkerrecht bis zur Unkenntlichkeit erodierte, anders gesagt, sich in ein taktisches Instrument verwandelt hat, das nach Belieben als Hammer gegen den politischen Gegner benutzt oder rücksichtslos übergangen wird. Der Niedergang der Vereinten Nationen ist ein Ausdruck dessen. Die Fälle, um nur die letzten Jahre zu streifen, reichen von einseitigen Unabhängigkeitserklärungen wie denen der baltischen Staaten noch vor der Auflösung der Sowjetunion bis zu den Interventionen der USA/NATO/EU in Afghanistan, Irak, Pakistan, Libyen usw. Russland ist mit dem georgischen Krieg 2008 und der folgenden Besetzung Südossetiens und Abchasiens wieder in diesen Klub der Interventionisten eingestiegen, allerdings nicht als kriegstreibende Macht.

Vor diesem Hintergrund sind die Auseinandersetzungen um die Legitimität der »Revolution« in der Ukraine ebenso wie um die Absicherung des Referendums auf der Krim durch russisches Militär nicht mehr und nicht weniger als taktische Manöver der großen »Player« auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung. Die Übergangsregierung in Kiew kann keine Legitimität für sich in Anspruch nehmen, sofern sie nicht für die ganze Ukraine sprechen kann und solange sie nicht durch eine allgemeine Wahl legitimiert ist. Dazu kommt die Teilhabe offen faschistischer Parteien an der Regierung. Insofern kann sie der Bevölkerung der Krim ein Referendum über eine Zugehörigkeit zu Russland und selbst eine Unabhängigkeitserklärung durch die regionale Regierung nicht versagen. Allerdings kann das Kiewer Kabinett sich auf die Macht des Faktischen berufen, die einfach neue Maßstäbe setzt – solange sie an der Macht ist und ihre Maßstäbe durchsetzen kann.

Ebenso wenig kann die russische Seite für sich in Anspruch nehmen, im Einklang mit dem Völkerrecht zu handeln, wenn sie Truppen auf die Krim schickt, die das Referendum nicht nur sichern, sondern befördern sollen. Auch hier gibt es jedoch die andere Seite, nach der das vorgezogene Referendum völkerrechtskonforme Fakten schaffen kann, solange die ukrainische Übergangsregierung nicht legitimiert ist. Mit tatsächlichen Rechten für die Bevölkerung hat das alles herzlich wenig zu tun. Hier geht es nur um den Wechsel einer Staatenzugehörigkeit, nicht um Selbstbestimmung der Menschen.

Eine Selbstbestimmung, die an den Interessen der Bevölkerung, an denen des einzelnen Menschen, nicht an der einen oder der anderen Nationalstaatszugehörigkeit ansetzte, hätte ganz anderen Kriterien als denen des jetzigen Völkerrechts, also Staatenrechts zu folgen, das sie aus einem Gewaltmonopol in ein anderes überführt. Eine tatsächliche Selbstbestimmung hätte an der demokratischen Organisation einer selbstverwalteten Autonomie anzusetzen, die sich in Kooperation mit anderen gleichberechtigten Regionen begibt – ganz gleich, ob im ukrainischen oder im russischen Staatsverband. Bis zu einem solchen Verständnis von Völkerrecht ist es jedoch ganz offensichtlich noch sehr weit.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 18. März 2014


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