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Auf dem "Euromaidan" von Cherson

Im Süden der Ukraine sind Extremisten bisher unter Kontrolle / Gesellschaftliche Kräfte sollen Miliz unterstützen

Von Valeri Pantelejew, Cherson *

Während im Westen der Ukraine Gegner des Präsidenten die Oberhand haben, herrschen in östlichen und südlichen Regionen andere Kräfteverhältnisse.

Während in der Hauptstadt Kiew Rechtsradikale den zweiten Monat in Folge Unruhen veranstalten, ist in Cherson alles vergleichsweise ruhig. Jeden Tag versammeln sich etwa 100 Anhänger des »Euromaidans« für anderthalb Stunden auf dem zentralen Platz. Reden werden gehalten, dann ziehen die Demonstranten über die zentrale Straße und verstreuen sich wieder.

Hauptfeinde der Aktivisten vom »Euromaidan« sind Präsident Viktor Janukowitsch und die Regierung. Eine gewisse Ironie besteht darin, dass die Protestierer hauptsächlich Rentner und Studenten sind. Gerade sie aber leben von den sozialen Zuwendungen genau dieser Regierung.

Die meisten der 300 000 Einwohner der Stadt lassen sich davon nicht stören. Sie ziehen es vor, sich mit ihren alltäglichen Angelegenheiten zu befassen. Allerdings gibt es unter den Einwohnern viele, die passiv mitfühlen. Das hat auch damit zu tun, dass das Fernsehen nicht nur ein einseitiges Bild zeichnet, sondern fast täglich irgendeine neue Desinformation verbreitet. Das Internet wird nur von wenigen genutzt, hauptsächlich auf der Arbeit, die Zeitungsauflagen sind unbedeutend. Als groß gilt schon eine Zeitung, die 8000 Exemplare verbreitet, und das in einem Gebiet, in dem mehr als eine Million Menschen leben.

Am 27. Januar ermordeten Rechtsradikale in Cherson einen Milizionär. Eine Gruppe studentischer Aktivisten kehrte von einem der üblichen Meetings zurück und brüllte Naziparolen. Drei Milizionäre wollten die Radikalen verwarnen, wurden aber zu Boden gerissen und mit Messern schwer verletzt. Ein Milizionär starb am nächsten Tag, ein zweiter liegt in kritischem Zustand noch im Krankenhaus.

Die Angreifer wurden festgenommen, bei einer Durchsuchung fand man Waffen und ein Hitler-Porträt. In sozialen Netzen hatten sie ihre neonazistischen Ansichten nicht verheimlicht. Allerdings wurden einen Tag nach ihrer Inhaftierung die Accounts gelöscht. Fernsehkanäle berichteten derweil, die Miliz habe friedliche Studenten provoziert. Unter dem Druck der Massenmedien wurde einer der Verhafteten freigelassen.

Da es in der Stadt nur wenige rechte Aktivisten gibt, hoffen sie auf die Beistand von Gesinnungsgenossen aus der Westukraine, die im Kampf mit der Miliz bereits »gestählt« sind. Gerüchte besagen, einige Dutzend seien bereits angereist. Man erkennt sie an der Kleidung und daran, dass sie sich in ukrainischer Sprache verständigen. Cherson ist russischsprachig.

Zur Unterstützung der Miliz wurden verschiedene gesellschaftliche Organisationen und »Tituschki« aufgerufen. So nennt man Arbeiter, die die Behörden gegen Bezahlung vor Angriffen der Rechtsradikalen schützen sollen. Was dies angeht, ist die Chersoner Schiffswerft, der einzige Großbetrieb der Stadt, die Rettung, denn alle übrigen Betriebe der Stadt wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion geschlossen.

In der Werft sind einige Tausend Arbeiter beschäftigt, viele als Schweißer. Vor allem sie werden von den Aktivisten des »Euromaidans« gefürchtet. Denn die wissen, dass die Miliz gegen sie nicht mit Gewalt vorgehen darf, »normale« Menschen aber könnten zuschlagen, wie in Saporoshje schon geschehen. Deshalb vermeiden die Extremisten in Cherson bisher gewaltsame Angriffe. Wenn sie allerdings aus dem Westen 500 Mann Verstärkung bekämen, wäre nicht klar, wer gewinnt.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 1. Februar 2014


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