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Zweierlei Maß

Tiefpunkt im deutschen Journalismus: Neuer Sammelband über den Ukraine-Konflikt nimmt Meinungsmache unter die Lupe

Von Rüdiger Göbel *

Die Macher des Internetportals Hintergrund haben mit »Ukraine im Visier« einen faktenschweren Sammelband zu den verschiedenen Komplexen des Konflikts vorgelegt. Susann Witt-Stahl, Thomas Eipeldauer und Sebastian Range schildern in ihren Beiträgen, wie aus Sozialprotesten gegen die Kiewer Regenten eine Sammelbewegung der äußerten Rechten wurde und welche Rolle die Faschisten heute in der Ukraine spielen. Mehr als verdienstvoll ist die Studie »Die gekaufte Revolution« von Matthias Rude zu nennen, der die Einflussnahme von Geheimdiensten, sogenannten Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen auf die »Maidan-Revolution« untersucht - die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung hat bekanntlich den Boxweltmeister Witali Klitschko zum Politprofi umgeschult. Unter Verweis auf das Verharmlosen und Negieren faschistischer Terrorbanden seitens der Heinrich-Böll-Stiftung bringt es der Autor auf den Punkt: »Die Grünen redeten die Braunen bunt.« Wer dagegen opponiert, wird als »Putin-Versteher« dämonisiert.

Einen Schwerpunkt des Bandes bildet die Medienkritik. Ausdrücklich hervorgehoben werden muss hier der Aufsatz von David Goeßmann über »Halbwahrheiten, Doppelstandards und Schweigen«. Der Mitbegründer des Webmagazins Kontext TV nimmt die »Berichterstattung mit Schlagseite« auseinander. Dem Spiegel hält er den Spiegel vor: »Welche Sanktionen könnten den Brandstifter in Washington D.C. zum Rückzug bewegen? Was will George W. Bush überhaupt: Will er nur Guantánamo kontrollieren, plant er, sich Kuba einzuverleiben, vielleicht noch mehr vom Hinterhof Amerikas`an sich zu reißen, wie man in Washington die an die USA grenzenden Gebiete nennt? Und tut er das als angeschlagener Boxer in einem imperialen Rückzugsgefecht - oder glaubt er wirklich, eine Art moderner Supermacht made in USA aufleben lassen zu können? Ende voriger Woche haben Russland und China erste Sanktionen gegen Washington beschlossen. Moskau schickte militärische Verstärkung nach Venezuela und Haiti. Und die deutsche Bundespolizei stellte umgehend ein halbes Dutzend Kooperationen mit den USA ein. Doch ansonsten herrscht erschreckende Ratlosigkeit.« Man ersetze nur Washington mit Moskau, USA durch Russland, Kuba mit der Ukraine, Guantánamo mit der Krim, Bush mit Putin sowie Venezuela und Haiti mit Polen und dem Baltikum sowie China mit der EU, voilà, fertig ist der Spiegel-Titel »Bis jenseits der Grenze«. Auch den »Halbwahrheiten der real existierenden Tagesschau, taz & Co.« geht Goeßmann nach. Die vollkommen unkritisch bis glorifizierende Maidan-Berichterstattung wertet er als »Tiefpunkt im deutschen Journalismus«. »Dieselben Medien, die sonst friedliche Proteste im eigenen Land gern auf ein paar Randalierer reduzieren und eskalierende Polizeigewalt unerwähnt lassen, übersahen auf dem Maidan im immer präsenter werdenden extremistischen Kräfte rechter und faschistischer Gruppierungen oder spielten ihre Bedeutung für den Staatscoup herunter.« Die Stimmungsmache hat Folgen: »Die taz, die sich über weite Strecken weigerte, den Konflikt mit journalistischer Distanz darzustellen und Russland als neue Bedrohung präsentierte, büßte im Laufe von 2014 laut MA Medienanalyse 20 Prozent ihrer Reichweite ein«, so Goeßmann. Anderen Blättern ergehe es nicht anders.

Die Einseitigkeit in der Berichterstattung hat zu massiven Zuschauer- und Leserreaktionen geführt. Sabine Schiffer macht in ihrer Untersuchung »Einspruch unerwünscht« auf »kritische Stimmen« innerhalb der kritisierten Medien aufmerksam und wirft die Frage auf, warum diese nicht so weit durchgedrungen sind, dass eine »Korrektur des Mainstreams« stattfand. So habe etwa die ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, in mehreren Beiträgen die starke Russland- und Putin-Dämonisierung kritisiert - um sich danach etwa von der Welt als »Putin-Flüsterin« diffamiert zu sehen. Schiffer führt Internetportale wie die Neue Rheinische Zeitung und Telepolis oder die Nachdenkseiten an, die »Aufklärungsarbeit« - warum die junge Welt in diesem Zusammenhang mit keinem Wort erwähnt wird, bleibt unerklärlich.

Kai Ehlers widmet sich der geopolitischen Gemengelage im Ukraine-Konflikt. Der Journalist ruft noch einmal die Ukraine-Doktrin des bekannten US-Strategen Zbigniew Brzezinski in Erinnerung und dessen Überlegungen, Russland niederzuhalten. »Mit der Übernahme der Krim in die russische Föderation setzte Russland jedem weiteren Vordringen der NATO in den russischen Einflussbereich ein unmissverständliches Njet entgegen. Statt dass der ukrainische Regime-Change einen vergleichbaren russischen nach sich gezogen hätte, der auch Russland in Brzezinskis Sinne 'allmählich' in einen willfährigen Partner des erneuerten westlichen Bündnisses verwandelt hätte, hat die unübersehbare Aggressivität der westlichen, speziell auch der US-amerikanischen Intervention in der Ukraine Putins Position gestärkt - und dies nicht nur in der russischen Bevölkerung, sondern weltweit.« Wer das nicht glauben mag, muss nur noch einmal die jüngsten Treffen der BRICS-Staaten Revue passieren lassen. Aber hierzulande werden ja lieber Bildausschnitte gezeigt von einem angeblich allein am australischen Gipfeltisch sitzenden Wladimir Putin.

Ronald Thoden, Sabine Schiffer (Hg.): Ukraine im Visier. Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen. Selbrund Verlag 2014, 316 Seiten, 16,80 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 8. Dezember 2014


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