Feinde des Feinds sind keine Freunde
Wieder herrscht in Kiew Euphorie. Viele hoffen auf eine andere, weniger korrupte Ukraine. Doch sollten die aufgeschlossenen UkrainerInnen genauer hinsehen, wer zu den SiegerInnen des gegenwärtigen Umsturzes gehört
Von Susan Boos *
Allein die Bilder sind schrecklich. Kiew brennt. Sondereinheiten in grauen Tarnanzügen und schwarzen Helmen schlagen mit Knüppeln auf Männer ein, die blutend am Boden liegen. Andere schiessen in die Menge. Die KämpferInnen der Opposition tragen bevorzugt grüne Tarnkluft und Motorradhelme. Sie schleudern Molotowcocktails, schiessen mit Pistolen oder werfen selbst gebastelte Granaten in die Reihen der Polizisten. Szenen wie aus einem Ego-Shooter-Spiel, das letzte Woche in tödliche Realität umschlug. Fast neunzig Menschen sind umgebracht worden. Die meisten waren ZivilistInnen, aber auch ein gutes Dutzend Polizisten starben.
Ökonomie im freien Fall
Vor zwanzig Jahren stand ich das erste Mal auf dem Maidan. Es war ein grosser, grauer Platz. Man konnte Pelzmützen, alte Ikonen und Bücher kaufen. Das Land war seit drei Jahren unabhängig. Alles fühlte sich noch sowjetisch an. Es gab keine Restaurants, kein Benzin, keine Werbung.
Es ging einem in Kiew nur gut, wenn man bei FreundInnen unterkam. Sie besassen alle nicht viel, aber wir verbrachten viele angeregte Stunden in winzigen Küchen, philosophierten, tranken Wodka, assen Speck mit eingelegten Gurken und schwarzes Brot.
Das Sowjetsystem war weg. Man konnte endlich sagen, was man wollte. Weg waren aber auch die Dinge, die einigermassen funktioniert hatten: die Schulen, die Universitäten und die Gesundheitsversorgung. Medikamente gab es keine. Der Strom fiel regelmässig aus. Wasser gab es nur zu bestimmten Zeiten. Die Ökonomie war im freien Fall. Es fehlte an allem – ausser an liebenswerten, klugen, hochgebildeten Menschen. Sie waren im Sowjetsystem gross geworden und wussten: Solange sie sich von der Politik fernhielten, konnten sie sich intellektuell ausleben und wurden in Ruhe gelassen.
Eine meiner Freundinnen heisst Natascha, ist Philologin und unterrichtete in der Westukraine an einer Universität Russisch und Ukrainisch. Als wir uns kennenlernten, war sie Ende dreissig. Ihr Sohn hatte früh begriffen, wie man Geld verdienen konnte. Er kaufte Thermoskrüge, füllte sie mit heissem Kaffee und stellte Frauen an, die für ihn den Kaffee verkauften. Das war 1995, und er war gerade einmal vierzehn Jahre alt. Vier Jahre später kaufte er einen kleinen Bus und begann, mit Waren zu handeln. Er gab bald mehr für seine Handyrechnung aus, als Natascha in einem Monat an der Universität verdiente.
Sie wollte, dass er studierte. Er aber sagte, das bringe offensichtlich nichts. Und sie konnte mit ihrem Monatslohn von umgerechnet 60 Franken schlecht dagegenhalten. Inzwischen ist sie Professorin und verdient knapp 500 Franken. Sie erzählte oft, wie es üblich sei, sich von den StudentInnen für gute Noten bezahlen zu lassen. Aber sie selber hat nie mitgemacht.
Sie hatte Glück, konnte AusländerInnen Russisch und Ukrainisch beibringen und verdiente etwas dazu. Heute besitzt sie eine Eigentumswohnung, ein Auto und fährt in den Ferien in die Türkei. Es ist das fragile Glück des ukrainischen Mittelstands. Solange sie arbeitet und niemand in der Familie ernsthaft krank wird, kommt sie anständig über die Runden.
Ihr Sohn kämpft immer noch mit seinem kleinen Business. Es wird immer härter, weil mafiöse Kreise ihm das Leben schwermachen. Doch reden will er nicht darüber. Er ist jetzt Mitte dreissig und wirkt wie fünfzig. Immer nervös, immer auf Achse. Er gehört zur verlorenen Generation, der Generation, die in den neunziger Jahren erwachsen wurde und glaubte, die Welt zu erobern.
Reich sind nur wenige geworden. Ich kenne einen von ihnen. Er fährt einen teuren Offroader-BMW mit dunklen Scheiben. Er besitzt einige Restaurants und lädt regelmässig befreundete Polizisten ein. Sie würden ihm helfen, wenn er in Schwierigkeiten sei, sagt er. Details erzählt er keine. Das ist die Korruption, die wie feine Adern das Land durchzieht. Es sind fast alle darin verstrickt, die Ärztinnen, die Behörden, die Polizisten. Es ist ein Teil des Lebens und der Ökonomie.
Die Rechte übernimmt
2004 kam die Orange Revolution und mit ihr eine grosse Euphorie. Wiktor Janukowitsch hatte bei den Wahlen betrogen. Die Menschen strömten auf die Strassen, sie wollten das nicht länger dulden. Sie standen auch damals in der Kälte auf dem Maidan und jubelten Wiktor Juschtschenko und Julia Timoschenko zu. Die beiden versprachen eine bessere Ukraine. Alle meine Bekannten waren elektrisiert, weil sich endlich etwas bewegte.
Wenn man genau hinschaute, wusste man schon damals, wer Juschtschenko war – ein Mann, der als Chef der Nationalbank hochgekommen war und eher für Neoliberalismus als Umverteilung stand. Über Timoschenko konnte man nachlesen, wie sie auf unlautere Art Macht und Reichtum errungen hatte. Aber damals mochten meine Bekannten das nicht hören. Sie wollten sich das bisschen Hoffnung nicht schlechtreden lassen.
Es ging nicht lange, und Juschtschenko zerstritt sich mit Timoschenko. Danach verkroch er sich, statt sich den politischen Problemen zu stellen, wie Natascha einmal frustriert bemerkte. Über Timoschenko wollte sie gar nicht mehr reden, zu sehr war sie von der geld- und machtgierigen Frau enttäuscht. Die Hoffnung war weg, die Korruption, die Schlaglöcher in der Strasse, die lausige Gesundheitsversorgung und die erbärmlichen Renten blieben.
2010 interessierten die Wahlen kaum mehr jemanden. Wiktor Janukowitsch wurde wiedergewählt. Er baute danach zielstrebig seine Macht aus und begann, die Presse zu drangsalieren. Dieser Mann hatte das Format zum Diktator. Meine Bekannten äusserten sich immer besorgter.
In den letzten Wochen standen einige von ihnen erneut auf dem Maidan und protestierten. Natascha sorgte sich, weil ihre Tochter auch mitmachte. Aber alles ging gut, Nataschas Tochter ist nichts passiert, Janukowitsch ist weg, die Opposition an der Macht, wieder herrscht Euphorie.
Diesmal wünscht man sich, die aufgeschlossenen UkrainerInnen würden genauer hinsehen, wer die «Helden vom Maidan» wirklich sind. Offiziell besteht die sogenannte Opposition aus drei Parteien: aus Udar (Schlag), der Partei von Boxer Witali Klitschko; aus Timoschenkos Partei Batkiwschtschyna (Vaterland), vertreten durch Arseni Jazenjuk; und aus Swoboda (Freiheit), der Partei von Oleg Tjagnibok.
Die drei haben schon im Januar eine Koalition gebildet. Swoboda ist aber eine rechtsextreme Partei. Ihr Chef, Oleg Tjagnibok, ist bekannt für seine antisemitischen Ausfälle, und seine AnhängerInnen lieben Fackelmärsche und den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera, der als Nazikollaborateur gilt.
Am Donnerstag letzter Woche reisten die Aussenminister von Frankreich, Deutschland und Polen sowie ein Sondergesandter Russlands in die Ukraine, um ein Ende der blutigen Auseinandersetzung in Kiews Strassen zu erwirken. Tjagnibok war als Vertreter der Opposition offiziell geladen, um neben Klitschko und Jazenjuk mit Janukowitsch zu verhandeln. Von den unabhängigen Intellektuellen war niemand dabei.
Kritik oder Propaganda?
Am Freitag um 17 Uhr hatte man sich geeinigt. Die Vereinbarung sah vor, dass es bald Neuwahlen geben sollte, dass die alte Verfassung wieder in Kraft tritt, alle politischen Gefangenen freikommen und die Protestierenden ihre Waffen abgeben. Zudem sollten die Gewaltakte der letzten Tage untersucht werden, und zwar unter Beobachtung des Europarats und der Opposition. Als das Abkommen den Leuten auf dem Maidan präsentiert wurde, lärmte der Rechte Sektor und weigerte sich, die Vereinbarung zu akzeptieren. Mit Erfolg.
Die Leute aus dem Rechten Sektor (Prawy Sektor), einem Zusammenschluss mehrerer nationalistischer und rechtsextremer Splittergruppen, stammen zum Teil aus der rechten Fussballhooliganszene, dem Sammelbecken für Männer der verlorenen Generation. Vor allem der Rechte Sektor hatte auf dem Maidan zu Waffen und Molotowcocktails gegriffen. Am Freitag schaltete er auf Youtube ein Video, auf dem er sich präsentierte. Das Video verspricht: «Wir sind im Kampf, es hat erst begonnen!»
Timoschenko hat sich am Samstag bei ihrem ersten Auftritt auf dem Maidan explizit beim Rechten Sektor bedankt. Niemand scheint sich zu getrauen, den Rechten Sektor oder Swoboda zu kritisieren, denn jede Kritik wird als russische Propaganda abgetan. Die Feinde des Feinds sind in diesem Fall keine Freunde. Und die EU hat den fatalen Fehler gemacht, sie zu FreiheitsheldInnen zu adeln. Das könnte sich böse rächen.
* Susanne Boos, leitende Redakteurin der Schweizer Wochenzeitung WOZ
Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, Nr. 9/2014 (27.02.2014); im Internet: www.woz.ch [externer Link]
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