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Schwächen des Aufstands

Angesichts der anhaltenden Offensive der Kiewer Truppen stellt sich die Frage, wie lange sich die »Volksrepubliken« im Donbass halten können

Von Reinhard Lauterbach *

Die verstärkte Offensive der Kiewer Streitkräfte im Donbass seit den ukrainischen Präsidentenwahlen zeigt entscheidende Schwächen der Aufständischen: daß ihre Chancen gegen den Einsatz von Kampfflugzeugen offensichtlich gering sind, daß ihnen schwere Waffen ebenso fehlen wie Koordination und ein einheitliches Oberkommando. Auch Disziplinmängel sind nicht zu übersehen.

Bisher haben die Erfolge der Aufständischen offenbar auch den Grund gehabt, daß die Kiewer Führung aus Furcht vor einer russischen Interven­tion vor einem allzu rigorosen Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung zurückschreckte. Das hat sich in den vergangenen Tagen schon durch den offensichtlichen Austausch von Truppen der regulären Armee gegen Einheiten der »Nationalgarde« und diverser »Territorialverteidigungen« geändert. Diese Truppen setzen sich aus rechten Kämpfern vom Maidan zusammen, denen ein höheres Maß an Skrupellosigkeit unterstellt werden kann. Vor diesem Hintergrund muß der Versuch der Aufständischen vom Montag, den internationalen Flughafen von Donezk zu besetzen, wohl als militärischer Fehler angesehen werden. Es ist schwer nachzuvollziehen, was eine Guerillatruppe mit einem Objekt anfangen soll, auf dessen großen Freiflächen sie ein leichtes Ziel für Angriffe mit schweren Waffen wird. Das Rollfeld hätte auch mit Hilfe abgestellter Fahrzeuge oder sonstiger Hindernisse gegen eine Luftlandung des Gegners gesichert werden können. Solche Entscheidungen ziehen, nebenbei bemerkt, immerhin die These der Kiewer Propaganda in Zweifel, der Aufstand werde von Offizieren russischer Spezialkräfte geleitet. Militärischen Profis wäre so etwas kaum passiert.

Die Disziplin der Aufständischen läßt offenbar zu wünschen übrig. In Slowjansk wurden am Montag ein Zug- und ein Kompanieführer der Aufständischen wegen Plünderungen standrechtlich erschossen – übrigens unter Berufung auf ein Dekret des sowjetischen Oberkommandos vom Sommer 1941. Von zweifelhaftem militärischem Nutzen ist auch die Brandschatzung eines Eishockeystadions in Donezk durch den Aufständischen zugerechnete Bewaffnete. Vermutlich handelte es sich um einen spontanen Racheakt, weil der Präsident des Hockeyklubs die vom Oligarchen Rinat Achmetow inszenierten Protestaktionen gegen den Aufstand unterstützte.

Erste Berichte über Plünderungen hatte es am 9. und 10. Mai während der Kämpfe um Mariupol gegeben; sie boten den unmittelbaren Anlaß dafür, daß Achmetow aus Beschäftigten seiner Stahlwerke einen Ordnerdienst bildete, der – offenbar mit Unterstützung der Bevölkerung – seitdem für Ordnung ohne und gegen die Vertreter der »Volksrepublik Donezk« sorgt, die sich inzwischen aus der Stadt zurückgezogen haben. Aus verschiedenen Orten des Donbass mehren sich Meldungen darüber, daß vor allem weibliche Anwohner inzwischen versuchen, die Aufständischen aus ihren Wohngebieten fernzuhalten. Das bringt die Frage auf die Tagesordnung, wie lange das Bündnis zwischen Aufständischen und Zivilbevölkerung hält.

Schließlich ist auch das politische Auftreten der Kiew-Gegner nicht einheitlich. Als besonders konfus muß die Führung der »Volksrepublik Donezk« angesehen werden. Ihr Vorsitzender Denis Puschilin erklärte einerseits, künftig werde die russische Gesetzgebung angewendet; andererseits bekundete er seine Bereitschaft zu Verhandlungen mit den Kiewer Machthabern. Auch die Vorbedingungen, die er hierfür nannte, sind mehrdeutig: Puschilin verlangte den Abzug aller »ausländischen« Söldner. Sind damit aufgrund der Unabhängigkeitserklärung der Region auch die Kiewer Truppen gemeint oder nur die vermutlich mehreren hundert Kämpfer im Dienst US-amerikanischer und britischer Sicherheitsunternehmen? Berichte, daß die Führung der benachbarten »Volksrepublik Lugansk« Puschilin deshalb als Verräter bezeichnet habe, wurden erst nach Stunden dementiert.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 28. Mai 2014


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