Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kiew schwadroniert über Atomkrieg

Verteidigungsminister Geletej sieht Androhung taktischer Waffen / NATO mit "Speerspitze"

Von Klaus Joachim Herrmann *

In der Ukrainekrise könnte vielleicht ein Ausweg aus dem Gasstreit gefunden werden. Alle anderen Zeichen bleiben auf Konfrontation bis zur Angstmache vor Atomwaffen.

Aus dem fernen sibirischen Jakutsk kam am Montag eine etwas besser Botschaft. Im ukrainisch-russischen Gasstreit wären beide Seiten am 6. September zu einem Treffen gemeinsam mit der EU-Kommission bereit, ließ der russische Energieminister Alexander Nowak an den Lagerstätten russische Medien wissen. Er hatte schon am Freitag Kiew vorgeschlagen, den Ausfuhrzoll für die Zeit der Gerichtsverhandlungen über gegenseitige Klagen von Gazprom und Naftogaz zu streichen und den Gaspreis somit auf 385 Dollar pro 1000 Kubikmeter zu senken. Das lehnte Kiew mit dem Hinweis ab, es handele sich ja dann um den »diskriminierenden« Grundpreis von 485 Dollar.

Der Chef aus Moskau dürfte über den Fortgang der Dinge bestens Bescheid wissen. Denn Präsident Wladimir Putin war auch gerade in Jakutien. In Us Chatyn wurde soeben mit dem Bau der Gasleitung »Sila Sibirii« (Kraft Sibiriens) begonnen, die ab 2019 die Volksrepublik China mit Gas versorgen wird. Das ist gewiss nicht nur ein 16-Miliarden-Euro-Projekt, sondern auch eine politische Botschaft.

Denn im fernen Europa drohte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Regierungserklärung Russland mit weiteren Sanktionen, da es versuche, »bestehende Grenzen unter Androhung oder sogar unter Einsatz von Gewalt zu verschieben«. Während die EU über weitere Strafmaßnahmen berät, feilte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen an einer »Speerspitze«, die der Bündnisgipfel am Donnerstag und Freitag in Wales beschließen wolle. »Wir werden die Reaktionsfähigkeit der Eingreiftruppe erheblich verbessern«, sagte Rasmussen. Bisher sind deren rund 60 000 Soldaten innerhalb von sechs Monaten einsetzbar. Künftig sollen »mehrere Tausend Soldaten« laut Rasmussen »sehr kurzfristig« einsetzbar sein. »Diese Truppe kann mit kleinem Gepäck unterwegs sein, aber hart zuschlagen.« Zu dem Abkommen zwischen der NATO und Russland von 1997, das die »dauerhafte Stationierung von substanziellen Streitkräften« der NATO in den östlichen NATO-Staaten verbietet, meinte er lakonisch: »Wenige Dinge im Leben sind dauerhaft.«

Mit gewagten Thesen feuerte ihn der ukrainische Verteidigungsminister aus Kiew an. Waleri Geletej, der bereits bei Amtsantritt mit der Verheißung einer Siegesparade auf der Krim aufgefallen war, behauptete nun laut UNIAN, der Donbass sei von feindlichen Kämpfern »befreit«. Jetzt aber müsse sich die Ukraine gegen Russland verteidigen. Es sei ein »großer Krieg« ausgebrochen, in dem Zehntausende Opfer zu befürchten seien. Der Nachbar habe, unterstellte er mit vagem Hinweis auf »inoffizielle« Quellen«, sogar den »Einsatz taktischer Atomwaffen« angedroht. Das sei »unser Großer Vaterländischer Krieg«, tönte der Minister.

In Minsk kam die Ukraine-Kontaktgruppe erstmals unter Beteiligung der prorussischen Separatisten zusammen. Deren Vertreter Andrej Purgin sagte, es gehe um Gefangenenaustausch und die humanitäre Lage. Er erwarte aber am Montag bei den Verhandlungen noch kein Ergebnis.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 2. September 2014


Rebellen auf dem Vormarsch

Kiew verliert Kontrolle über Flughafen. »Separatisten« wollen in der Ukraine bleiben **

Vertreter der Ukraine, Rußlands und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie Abgesandte der ostukrainischen Widerstandsbewegung sind am Montag in Minsk zu einer Sitzung der sogenannten Kontaktgruppe zusammengekommen. Wie der russische Fernsehsender RT berichtete, haben die Repräsentanten der international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk dabei ihre Bereitschaft erklärt, im Staatsverband der Ukraine zu verbleiben, wenn der Region Autonomierechte verliehen würden. Am Vortag waren Sprecher der Rebellen noch mit der Aussage aufgetreten, sie könnten sich einen gemeinsamen Staat »mit den Faschisten in Kiew« nicht mehr vorstellen.

Die ukrainische Regierung bestätigte am Montag, daß ihre Truppen die Kontrolle über den Flughafen von Lugansk verloren hätten. Dort sei ein »russisches Panzerbataillon« im Einsatz, so Sprecher des Regimes. Auch der Airport von Donezk war weiter umkämpft. Zudem erklärten die Aufständischen, mehrere Ortschaften eingenommen zu haben sowie alle Zufahrtswege nach Mariupol zu kontrollieren.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow wies den Vorwurf einer Militärintervention seines Landes in der Ukraine erneut zurück. »Es wird keine militärische Einmischung geben. Wir treten ausschließlich für eine friedliche Lösung dieser schwersten Krise ein, dieser Tragödie«, sagte er der Agentur Interfax zufolge vor Studenten in Moskau. Zugleich kritisierte Lawrow die vorbehaltlose Unterstützung des Westens für die Führung in Kiew. Es sei Aufgabe der EU und der USA, das zu fordern, was sie in anderen Konflikten predigten, nämlich damit aufzuhören, »schwere Waffentechnik und die Luftwaffe gegen zivile Objekte und gegen friedliche Menschen einzusetzen«.

Auch Rußlands Präsident Wladimir Putin machte deutlich, daß die Lösung der Ukraine-Krise »vom politischen Willen der aktuellen ukrainischen Führung« abhänge. Im Gespräch mit dem Fernsehsender Perwy Kanal sagte er, die Situation im Nachbarland werde auch durch die bevorstehende Parlamentswahl belastet: »Alle Teilnehmer des bereits begonnenen Wahlkampfes wollen ihre Stärke zeigen.« Allerdings habe er Hoffnung auf ein gutes Ende. Diese stütze sich auf seine jüngste Unterredung mit dem ukrainischen Staatschef Petro Poroschenko. Dieser sei »ein Partner, mit dem man einen Dialog führen kann«.

** Aus: junge Welt, Dienstag 2. September 2014


Die Richtigen am Tisch

Klaus Joachim Herrmann über das zweite Minsker Treffen zur Ukraine ***

Minsk steht bislang nicht für erfolgreiche Verhandlungen zur Lösung der ukrainischen Krise. Wie schon das Gipfeltreffen der Präsidenten aus Kiew und Moskau die Konfrontation nicht abflauen ließ, wurde auch der neue Versuch von politischer Großmäuligkeit und anderem Kampfeslärm begleitet. Doch als Hoffnungsschimmer könnte die Anreise von Vertretern der wirklichen Konfliktpartei gelten. Erstmals sollen die Gegner aus dem Osten der Ukraine sprechen dürfen und gehört werden.

Der Westen hat von Anfang an und zu keiner Zeit Zweifel daran gelassen, wem seine Sympathie, Solidarität und Unterstützung gehört – und dass ihm der Donbass egal ist. Auf dem Maidan mischten sich ausländische Politiker unter Demonstranten, hielten heiße Reden und verteilten mehr als nur Kekse. In Verblüffung und Zorn über dessen Abkehr von einer Assoziation mit der EU nahmen sie den gewaltsamen Sturz eines gewählten Präsidenten und die blutige innere Zerreißprobe billigend in Kauf. Auch ansonsten lassen sie in Kiew gern alle Fünfe gerade sein.

»Die ganze Welt steht an unserer Seite«, konnte deshalb der neue Kiewer Herrscher im Kampfanzug unwidersprochen derselben verkünden. Dabei gilt das aber nicht einmal in einem wesentlichen Teil des eigenen Landes. Eben der aber gehörte nun endlich an den Verhandlungstisch.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag 2. September 2014 (Komemntar)


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage