Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Premier bringt Panzerwagen bis Slawjansk

Belagerung fortgesetzt / EU will Experten schicken

Von Klaus Joachim Herrmann *

Mit einer besonderen Gabe wartete der ukrainische Übergangspremier Arseni Jazenjuk am Mittwoch bei einem Truppenbesuch auf. Vor dem von prorussischen Kräften beherrschten ostukrainischen Slawjansk übergab er vier Schützenpanzer BTR-4E im Militärlager der Belagerer, berichtete die russische Agentur RIA/Novosti. Insgesamt würden 40 Schützenpanzer dieses Typs für die unter anderen aus rechtsextremen »Selbstverteidigungskräften« des Maidan formierte Nationalgarde angeschafft. Hinzu kamen Beförderungen und Auszeichnungen. Auch die prorussischen Kräfte hätten ihre Kontrollpunkte mit Raketenkomplexen des Typs »Fagott« aufgerüstet, hieß es aus Kiew.

Die »Anti-Terror-Operation« bei Slawjansk werde fortgesetzt, bekräftigte das Kiewer Innenministerium. Prorussische Kräfte bestätigten einen Angriff der Regierungstruppen. Am Stadtrand habe es zwei schwere Explosionen gegeben. Die Gefechte sollen sich auf den Fernsehturm im Stadtteil Andrejewka konzentriert haben.

Im südostukrainischen Mariupol nahe der Grenze zu Russland vertrieben Regierungskräfte prorussische Kräfte zunächst aus dem Stadtrat. Diese sollen später das Gebäude wieder eingenommen haben. Etwa 15 Menschen seien bei einem Gaseinsatz der Polizei verletzt worden, berichteten Aktivisten. Im östlichen Lugansk wurde das Gebäude der regionalen Staatsanwaltschaft besetzt.

Insgesamt hätten die Regierungseinheiten im Verlauf der Operation bislang 14 Tote und 66 Verletzte zu verzeichnen. In den vergangenen zwei Tagen seien, so Angaben des Geheimdienstchefs Valentin Naliwaitschenko bei UNIAN, »30 schwer bewaffnete Kämpfer vernichtet« worden.

Drei gefangen genommene Angehörige der Spezialeinheit »Alpha« wurden laut örtlichen Medien gegen drei »Separatisten« ausgetauscht. Zurückgewiesen wurde ein russischer TV-Bericht über die Stationierung von Geschosswerfern bei Slawjansk. Die Bilder würden Fahrzeuge der Russischen Armee zeigen.

Hilfe bei einer Reform des zivilen Sicherheitssektors, zu dem Polizei, Geheimdienste, Strafvollzug und Justiz gehören, kündigte die Europäische Union an. Der Auswärtige Dienst solle Experten in die Ukraine entsenden, informierte EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy laut dpa in Brüssel.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 8. Mai 2014


Wer waren die Mordbrenner von Odessa?

Faschisten, die Opfer selbst und Provokateure nach Brand des Gewerkschaftshauses unter Verdacht

Von Ulrich Heyden, Moskau **


Bei der Suche nach Schuldigen am Brand des Gewerkschaftshauses in Odessa, bei dem am 2. Mai Dutzende Menschen starben, werden vor allem Rechtsextremisten als Mordbrenner genannt.

»Was in Odessa am 2. Mai geschah, das war reiner Faschismus«, stellte Russlands Außenminister Sergej Lawrow in einer Stellungnahme am Donnerstag fest. Odessas Gewerkschaftshaus war von Anhängern der prowestlichen Kiewer Übergangsregierung belagert worden, die Brandsätze auf das Gebäude schleuderten. Dort hatten prorussische Demonstranten Zuflucht gesucht. Das US-Außenamt machte sie als Opfer gleich selbst verantwortlich: »Dies fing an, weil prorussische Kräfte und Separatisten als Erste angegriffen haben«, sagte Außenamtssprecherin Marie Harf.

Der Westen werde wohl nicht auf eine gerechte Untersuchung der Tragödie in Odessa drängen, schrieb die »Rossiskaja Gasjeta«. Im Internet allerdings tauchen zunehmend mehr Videos auf, die zeigen, wie sich während des Brandes mit Knüppeln und Schildern bewaffnete Mitglieder des »Rechten Sektors« durch einen Seiteneingang Zugang in das Gewerkschaftshaus verschaffen, dort Türen aufbrechen und offenbar gezielt Jagd auf Menschen machen.

Ein Video zeigt eine schreiende Frau im Schwitzkasten eines Angreifers – »Kinder, tut es nicht.« Die Anhänger des Rechten Sektor stürmten auch in obere Etagen des Gebäudes, aus deren Fenstern ukrainische Fahnen geschwenkt wurden. Von dort stammt offenbar auch das Foto einer schwangeren Büroangestellten, die erdrosselt worden sein soll.

Möglicherweise hat es während des Brandes in dem Gebäude weitere, bisher noch unbekannte, Morde gegeben. Der Augenzeuge »Wanja« berichtete in einem auf einer Straße in Odessa aufgenommenen Video, er habe 116 Leichen im Keller des Gewerkschaftshauses gesehen. Diese Menschen seien durch Schüsse, Knüppelschläge und Gas getötet worden. Nach offiziellen ukrainischen Angaben kamen in Odessa 46 Menschen zu Tode.

Offenbar gelangten Anhänger des Rechten Sektors auch auf das Dach des Hauses. Zumindest behauptet das der Augenzeuge Wanja. Videos und Fotos zeigen, wie junge Leute auf dem Dach Molotow-Cocktails aufreihen und eine Flasche anzünden. Dass eine Brandflasche geworfen wird, ist allerdings nicht zu sehen.

Die Moskauer Zeitung »Kommersant« berichtete aus Odessa, die Bürger dort glaubten nicht an das einfache »Schwarz-Weiß-Bild der Kiewer Medien«, wonach »ukrainische Patrioten gegen aggressive russische Separatisten kämpften«. Sie seien der Meinung, dass es bei der Straßenschlacht »Provokateure auf beiden Seiten« gab. Sie hätten die Maidan-Anhänger und die Anti-Kiew-Demonstranten gegeneinander aufhetzen wollen.

Angesichts zahlreicher Spekulationen wäre eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle erforderlich. Warum kamen Polizei und Feuerwehr erst zum Brandort, als die Flammen schon aus den Fenstern schlugen? War das Schlamperei oder Absicht? Durfte sich der Rechte Sektor vor dem Gewerkschaftshaus womöglich mit Billigung der Kiewer Regierung austoben und seine Macht gegenüber den Regierungsgegnern zeigen? Warum nahm die Polizei viele Überlebende der Brandkatastrophe im Gewerkschaftshaus fest, statt sie ins Krankenhaus zu fahren. Wollte man den Anti-Kiew-Aktivisten eine Lektion erteilen?

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 8. Mai 2014


»Faschismus pur«

Rußland wirft EU Verharmlosung rechter Gruppen in der Ukraine vor. Internationale Untersuchung des Massenmords in Odessa gefordert. Kiew verteilt Orden in Slowjansk

Von Rüdiger Göbel ***


Rußlands Außenminister Sergej Lawrow findet nach dem Brandangriff auf das Gewerkschaftshaus in Odessa mit Dutzenden Toten und mehr als 200 Verletzten deutliche Worte. Das, was am 2. Mai in der südukrainischen Hafenstadt geschehen ist, war »Faschismus pur«, so Moskaus Chefdiplomat. Dem Westen wirft er vor, das Anwachsen rechter Gruppen in der Ukraine auszublenden. Bei einer Blumenniederlegung anläßlich des bevorstehenden »Tages des Sieges« über den Hitler-Faschismus, den Rußland am 9. Mai mit Paraden feiert, sagte Lawrow am Mittwoch laut RIA Nowosti: »Seit vielen Jahren setzt man sich in Europa darüber hinweg, wie diese Ideologie neue Anhänger gewinnt, wie ihre Propagandisten Märsche zu Ehren ehemaliger SS-Schergen organisieren, die vom Nürnberger Tribunal als Verbrecher anerkannt wurden. Das aber, was jetzt vor sich geht, sind nicht mehr bloß Märsche mit Losungen, mit denen Naziverbrecher glorifiziert werden, das ist bereits Faschismus live.«

Rußland werde es nicht gestatten, die Fakten des Verbrechens in der Schwarzmeerstadt Odessa »unter den Teppich zu kehren, wie dies jetzt die Regierungskoalition zu tun versucht, indem sie die Ermittlungen vor der Öffentlichkeit geheimhält«, sagte Lawrow mit Blick auf die vom Westen gestützte Führung in Kiew. »Wir werden darauf hinarbeiten, daß alle Zeugnisse, die dafür sprechen, daß die Dimensionen der Tragödie von den Behörden absichtlich verheimlicht werden, untersucht und publik gemacht werden«, betonte Lawrow.

Rußlands Medien hatten in den vergangenen Tagen ausführlich über die Attacke auf das Gewerkschaftshaus durch den »Rechten Sektor« und die Folgen berichtet – im Gegensatz zu den großen TV-Anstalten und Zeitungen in Deutschland. Nach offiziellen Angaben des ukrainischen Innenministeriums gab es dabei 46 Tote und 214 Verletzte. Die meisten sollen Opfer von Rauchvergiftungen und Erstickungen geworden sein. Politiker in Odessa gehen von mehr als 100 Toten aus und werfen der Führung in der Hauptstadt vor, das wahre Ausmaß der Morde zu vertuschen. Mittlerweile mehren sich auch Berichte, wonach mehrere Menschen in dem attackierten Gebäude mit gezielten Kopfschüssen buchstäblich hingerichtet und anschließend verbrannt worden sind.

Einmal mehr forderte Rußland die Armee des Nachbarlandes auf, ihre Kampfhandlungen in der Ostukraine einzustellen. »Die illegitime Führung in Kiew tritt mit Duldung ihrer westlichen Patrone weithin anerkannte Rechte weiter mit Füßen«, hieß es in einer Erklärung des Außenministeriums in Moskau am Mittwoch. Der Einsatz von Gewalt gegen das eigene Volk müsse sofort beendet werden.

In der 120000 Einwohner zählenden Stadt Slowjansk berichteten Gegner der Kiewer Machthaber von einem neuen Angriff der Regierungstruppen. Am Stadtrand habe es zwei schwere Explosionen gegeben, teilten die Widerstandskräfte RIA Nowosti mit. Über mögliche Opfer war zunächst nichts bekannt. Unklar ist die Lage in der Schwarzmeerhafenstadt Mariupol nahe der Grenze zu Rußland. Das Innenministerium in Kiew behauptete, Regierungskräfte hätten ihre prorussischen Gegner aus dem Gebäude des Stadtrates vertrieben und mehrere »Unruhestifter« festgenommen. RIA Nowosti meldete, Kräfte der Selbstverteidigung hätten das Rathaus, das am frühen Morgen von Kiew-treuen Truppen besetzt worden war, wieder unter ihre Kontrolle gebracht und abermals die Flagge der selbstproklamierten »Volksrepublik Donezk« gehißt. Vor dem Rathaus sollen sich rund eintausend Menschen zu einer Kundgebung versammelt haben. Regierungssoldaten hätten vor dem Verlassen des Gebäudes im Inneren ein unbekanntes Gas versprüht, meldeten deren Gegner. Im östlichen Luhansk besetzten Widerstandskräfte ohne Gegenwehr das Gebäude der regionalen Staatsanwaltschaft.

Am Mittwoch nachmittag rief Rußlands Präsident Wladimir Putin dazu auf, ein für Sonntag geplantes Unabhängigkeitsreferendums in der Ost­ukraine zu verschieben. Es müßten erst die Bedingungen dafür geschaffen werden. Man werde dies bei der für diesen Donnerstag geplanten Volksversammlung beraten, sagte Denis Puschilin, einer der Anführer der »Volksrepublik Donezk« laut Reuters.

Der ukrainische Regierungschef Arseni Jazenjuk denkt derweil nicht an Deeskalation. Demonstrativ stattete er am Mittwoch ihm loyalen Truppen in der Nähe von Slowjansk einen Besuch ab und übergab der »Nationalgarde«, in der unter anderem Mitglieder des »Rechten Sektors« organisiert sind, persönlich vier Schützenpanzer. Mit im Gepäck hatte der Parteifreund von Präsidentschaftskandidatin Julia Timoschenko (»verdammte russische Hunde erschießen«) Tapferkeitsorden. Seit Beginn der Militäroperation gegen die Anhänger der Föderalisierung im Osten der Ukraine sind nach Angaben Kiews 14 Soldaten ums Leben gekommen, 66 weitere wurden verletzt. Angaben über getötete Bürger und Kämpfer auf der Gegenseite, vom Kiewer Regime allesamt als »Terroristen« bezeichnet, werden nicht gemacht.

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 8. Mai 2014


Oligarch protegiert

Poroschenko zu Gast bei Merkel und Steinmeier

Von Aert van Riel ****


Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier befürchtet, dass es in dem Konflikt in der Ukraine zu einem Punkt kommen kann, wo es kein zurück mehr gibt. »Doch es ist nicht zu spät. Die Vernunft kann noch die Oberhand gewinnen«, sagte der SPD-Politiker bei einer Aktuellen Stunde im Bundestag, die von den Regierungsfraktionen beantragt worden war. Steinmeier ist für eine weitere internationale Konferenz in Genf. Er beklagte aber, dass »Ausschreitungen mit Gewalt« die Diplomatie zurückwerfen würden, etwa vergangene Woche in Odessa. Dabei ließ der Sozialdemokrat unerwähnt, dass bei den dortigen Auseinandersetzungen viele Kritiker der Kiewer Übergangsregierung brutal getötet wurden.

Kritischer äußerte sich der LINKE-Abgeordnete Wolfgang Gehrcke über die ukrainische Politik und rechte Gruppen im Land. Angesichts der Kämpfe im Osten warf er der ukrainischen Armee vor, gegen das eigene Volk vorzugehen. Gehrcke verlangte einen Waffenstillstand und Verhandlungen. Auch Vertreter aus der Ostukraine sollten beteiligt werden. Dagegen kritisierte er die Macht von Oligarchen und Faschisten in der Ukraine.

Die Bundesregierung hat mit diesen Gruppen kein Problem. Obwohl in Kiew die rechtsnationalistische Swoboda mitregiert, sagte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU), man müsse die Regierung unterstützen statt kritisieren. Auch ein Oligarch, der bald eine zentrale Rolle in der Ukraine spielen dürfte, wird von der Bundesregierung umworben. Am Mittwochnachmittag trafen sich Steinmeier und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit Petro Poroschenko, der mit dem Verkauf von Süßwaren und Kriegsmaterial reich geworden und ein einflussreicher Medienunternehmer ist. Er hat gute Chancen, am 25. Mai zum Präsidenten gewählt zu werden. Als politisches Chamäleon bekleidete Poroschenko unter den Präsidenten Viktor Juschtschenko und Viktor Janukowitsch Regierungsämter. Jetzt wird er unter anderem vom Merkel-Freund und früheren Boxer Vitali Klitschko unterstützt.

Bei einem Pressegespräch in den Räumen des Bundestags wurde deutlich, dass der ukrainische Präsidentschaftskandidat keineswegs ein Mann der Diplomatie ist. Mit prorussischen Aktivisten im Osten des Landes wolle er nicht verhandeln. Diese seien »Terroristen«. Deswegen sei auch das gewaltsame Vorgehen der ukrainischen Armee »gerechtfertigt«.

**** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 8. Mai 2014


Falsche Richtung

Klaus Joachim Herrmann über die ukrainische Präsidentenwahl *****

Die ukrainische Präsidentenwahl am 25. Mai wird vom Westen und seinem Kiewer Regierungschef Jazenjuk als »demokratisch«, Ausweg und »Schlüssel für die Stabilisierung« hochgelobt. Großer Favorit – und Mittwoch demonstrativ Gast der Kanzlerin – ist Petro Poroschenko. Wenn auch »Oligarchen« sonst gern geschmäht werden, sah sie den gern. Sei’s drum, auch Personen weisen Wege.

Mehr noch als der prowestliche Milliardär schafft das der Vorgang selbst. Wie wegweisend ist wohl eine »demokratische« Wahl, wenn sie während des Angriffs von regulären Truppen in einem unbotmäßigen Landesteil abgehalten wird? Ein Sieg bis zum Urnengang machte das auch nicht besser. Die West-Ost-Spaltung bliebe.

So geht es um die Wahl als solche und den demokratischen Schein. Das Präsidentenamt schrumpfte mit der Rückkehr zur alten Verfassung auf alte Maße. Eine Reform blieb aus, schon gar ein Kabinett nationaler Einheit oder ein neues Parlament. Solches steht nicht zur Entscheidung. Die Präsidentenwahl soll nach dem Umsturz alles legitimieren. Das ist aber die falsche Richtung. Besser wäre, ein Präsident würde das Volk der splitternden Landesteile einen und den Dialog mit seinen Gegnern aufnehmen. Dafür ist Poroschenko wohl nicht der Mann.

***** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 8. Mai 2014


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