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Kiew im Angriff – trotz Toten und Trauer

In Odessa wurden 46 Menschen nach Straßenschlachten Opfer eines Brandes / Militärbeobachter frei

Von Klaus Joachim Herrmann *

Entsetzen löste der Tod von 46 Menschen am 2. Mai in der Stadt Odessa aus. Die Kämpfe im Osten der Ukraine wurden trotzdem ausgeweitet. Westliche Militärbeobachter kamen frei.

Die furchtbaren Ereignisse in der Hafenstadt Odessa wurden von Übergangspremier Arseni Jazenjuk am Sonntag bei einem Besuch propagandistisch gegen Moskau ausgeschlachtet. Sie seien Teil eines russischen »Plans zur Zerstörung der Ukraine«, behauptete er.

Bei der Eskalation von Straßenschlachten waren am Freitag in der Schwarzmeerstadt prorussische Demonstranten vor Anhängern der Kiewer Übergangsregierung in das Gewerkschaftshaus geflüchtet. Das wurde durch Molotow-Cocktails in Brand gesetzt. 46 Menschen fanden den Tod, 214 wurden verletzt, davon 27 schwer.

Die Europäische Union hatte nach dem Unglück alle Seiten zu »größtmöglicher Zurückhaltung« aufgerufen. Die »Tragödie« dürfe nicht instrumentalisiert werden, um den Konflikt im Osten der Ukraine weiter anzuheizen und noch »mehr Hass, Spaltung und sinnlose Gewalt« zu schüren, erklärte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton in Brüssel.

Unter Missachtung einer von Übergangspräsident Alexander Turtschinow angewiesenen zweitägigen Staatstrauer wurde der Angriff der ukrainischen Armee im russischsprachigen Osten des Landes fortgesetzt. Mit Kampfhubschraubern und Panzerfahrzeugen gingen Regierungstruppen gegen prorussische Milizen vor. Der »Anti-Terror-Einsatz« sei auf weitere Städte ausgeweitet worden, sagte der Vorsitzende des Sicherheitsrats, Andri Parubi.

Moskau hatte eine Großoffensive befürchtet, wie aus einem Telefonat des Außenministers Sergej Lawrow mit seinem deutschen Kollegen Frank-Walter Steinmeier hervorging. Beide Minister hätten die Bereitschaft bekundet, Verhandlungen zwischen der Zentralmacht in Kiew und den »Repräsentanten« im Südosten des Landes zu ermöglichen, hieß es in Moskau.

Auch mit der Freilassung von Militärbeobachtern aus OSZE-Staaten verbundene Hoffnungen auf eine Entspannung erfüllten sich nicht. Die Militärs, darunter vier Deutsche, waren Samstag mit einer Regierungsmaschine in Berlin eingetroffen und von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf dem Rollfeld begrüßt worden. Sie äußerte »tiefe Dankbarkeit« für die internationale Zusammenarbeit, die zur Rückkehr der Männer geführt habe. US-Außenminister John Kerry nannte die Freilassung einen »Fortschritt« in der Ukraine-Krise.

Maßgeblich an der Befreiung aus der Gefangenschaft der Milizen in Slawjansk war der russische Sondergesandte Wladimir Lukin beteiligt. Kreml-Sprecher Dmitri Pskow versicherte später aber, Moskau habe »seinen Einfluss auf diese Leute verloren«.

Außenminister Lawrow forderte in einem Telefongespräch mit Kerry die USA auf, »das Regime in Kiew zu zwingen«, den Militäreinsatz in der Ostukraine zu stoppen. Die Regierung führe einen »Krieg gegen das eigene Volk«.

Die Kiewer Übergangsregierung wird laut »Bild« von Dutzenden Spezialisten des US-Geheimdienstes CIA und der US-Bundespolizei FBI beraten. »Die Beamten sollen im Auftrag der US-Regierung Kiew dabei helfen, die Rebellion im Osten des Landes zu beenden und eine funktionsfähige Sicherheitsstruktur aufzubauen«, schrieb das Blatt.

Gekämpft wurde am Wochenende auch in Städten wie Kramatorsk, Lugansk und Kostjantyniwka. In Kramatorsk eroberte die Armee am Samstag einen Fernsehsendeturm und mehrere Kontrollposten der Milizionäre zurück. In Lugansk griffen prorussische Bewaffnete eine Militäreinheit und ein Rekrutierungsbüro der Armee an und verletzten zwei Soldaten. In Slawjansk schien sich die Lage am Morgen beruhigt zu haben. Dort waren am Freitag bei Kämpfen mindestens neun Menschen getötet worden.

Auf der Halbinsel Krim erzwangen etwa 5000 Krimtataren trotz russischen Verbotes die Einreise ihres Anführers Mustafa Dschemilew.

* Aus: neues deutschland, Montag, 5. Mai, 2014


Schwarzer Rauch und keine Luft zum Atmen

In Odessa fanden Dutzende Menschen, die vor Straßenschlachten geflüchtet waren, den Tod im Gewerkschaftshaus

Von Ulrich Heyden, Moskau **


Berge roter Nelken vor dem Gewerkschaftshaus von Odessa – Bürger der Stadt legten sie am Wochenende zum Gedenken an mehr als 40 Menschen nieder, die hier erstickten und verbrannten.

Die Millionenstadt Odessa kam auch am Sonntag nicht zur Ruhe. 2000 zornige prorussische Demonstranten stürmten am Abend den Sitz der örtlichen Miliz. Sie durchbrachen mit Knüppeln bewaffnet die Absperrungen, um ihre im Zuge der tragischen Ereignisse vom Freitag verhafteten Aktivisten zu befreien. Unter den 160 Festgenommenen waren auch 60 Personen, die sich aus dem brennenden Gewerkschaftshaus retten konnten. Viele von ihnen brauchten dringend medizinische Hilfe.

Die Gegner der neuen Kiewer Regierung waren bereits am Freitag Opfer eines unbeschreiblichen Geschehens geworden. Sie hatten sich in das mehrstöckige Gewerkschaftshaus am Kulikow-Feld geflüchtet. Anhänger des extremistischen »Rechten Sektors« warfen Molotow-Cocktails in die Fenster des mehrstöckigen Gebäudes. In Minutenschnelle breitete sich ein Brand in dem Gebäude aus.

Die Eingänge wurde versperrt. Die Eingeschlossenen flüchteten an die Fenster. Manche standen in großer Höhe auf Mauervorsprüngen, um den Flammen zu entgehen. Die Feuerwehr und die Polizei kamen erst, als die Flammen aus den Fenstern schlugen.

Viele der durch den Brand im Gewerkschaftshaus Eingeschlossenen konnten sich aus dem Gebäude nur durch lebensgefährliche Sprünge retten oder abseilen. Unten angekommen wurden sie – obwohl bereits verletzt –, von militanten Maidan-Anhängern mit Füßen getreten und Knüppeln traktiert.

Die Ärztin Sofia berichtet in einem Blog beim liberalen Moskauer Info-Sender »Echo Moskwy« über ihre Erlebnisse. »Es gab schwarzen Rauch. Alle legten sich auf den Boden, wo es noch Luft zum Atmen gab.« Nach zehn Minuten habe jemand ein Seil durch das offene Fenster geworfen, woran sie sich habe abseilen können. Unten angekommen, hätten Zivilisten ihr Wasser gegeben. Aber die Maidan-Anhänger hätten angefangen, sie zu bedrängen. Ihr sei es aber gelungen zu entkommen, um nicht von den »Europäern« und »Demokraten« geschlagen zu werden – »einfach deshalb, weil man überlebt hatte und nicht lebendig verbrannt war«, wie sie bitter mitteilt.

Anhand von Videos, Fotos und Augenzeugenberichten lassen sich die furchtbaren Ereignisse im Gewerkschaftshaus einigermaßen rekonstruieren. In einem der Videos ist zu sehen, wie eine aufgeputschte Menge Molotow-Cocktails in die Fenster des Gewerkschaftshauses wirft. Ein Mann mit ukrainischer Armbinde schießt mit einer Pistole auf das Gewerkschaftshaus. Auf Fotos sieht man verkohlte Leichen in bizarren Stellungen auf den Treppenabsätzen des Gewerkschaftshauses liegen.

Die Auseinandersetzungen zwischen Regierungskritikern auf der einen und Maidan-Anhängern auf der anderen Seite begannen am Freitagnachmittag. Mehrere Tausend Anhänger der Fußballklubs Tschernomorez Odessa und Metallist Charkow sowie Maidan-Anhänger marschierten mit blau-gelben Flaggen in einem »Marsch für eine einige Ukraine« in Richtung Fußballstadion, wo die beiden genannten Mannschaften aufeinandertreffen sollten.

Unter den Maidan-Anhängern waren auch zahlreiche mit Knüppeln und Helmen ausgerüstete Militante des »Rechten Sektors«. Nach einem Bericht der Links-Organisation »Borotba« (Kampf) waren die Militanten mit Bussen und Zügen aus anderen Gebieten der Ukraine angereist. Als sich dann 200 Regierungsgegner – von denen ebenfalls nicht wenige mit Knüppeln und Helmen ausgerüstet waren – dem Marsch der Maidan-Anhänger in den Weg stellten, kam es zu einer brutalen Straßenschlacht. Steine und Molotow-Cocktails flogen.

Während sich die Fußballfans zerstreuten, zogen die Anhänger des »Rechten Sektors« weiter zu einem Zeltlager der Regierungsgegner vor dem Gewerkschaftshaus, wo sie Zelte in Brand steckten und Molotow-Cocktails in die Fenster des Gewerkschaftshauses warfen.

Die Links-Organisation »Borotba« meinte in einer Erklärung, Militante des »Rechten Sektors« seien für die Opfer in Odessa verantwortlich. Die Regierung in Kiew habe den Rechten freies Feld gelassen, um die Regierungsgegner in Odessa einzuschüchtern.

Befremdlich waren zum Teil die Reaktionen ukrainischer Politiker. Die Präsidentschaftskandidatin Julia Timoschenko dankte »den Menschen von Odessa«. Sie hätten friedlich demonstriert und die Besetzung von administrativen Gebäuden verhindert. Für die Toten sei nicht der »Rechte Sektor« verantwortlich, sondern »Störer-Gruppen«.

Wer darauf wartete, dass der Übergangspräsident Alexander Turtschinow dazu aufruft, politische Gegner nicht zu verbrennen, hatte zu viel erhofft. Stattdessen sprach er von »tragischen Ereignissen«, die »vor allem auf äußere Provokation« zurückzuführen seien.

** Aus: neues deutschland, Montag, 5. Mai, 2014


Reaktionen: Odessa im Schock ***

Die südukrainische Hafenstadt Odessa stand auch zwei Tage nach dem blutigen Pogrom der Rechten vor dem Gewerkschaftshaus unter Schock. Vor dem inzwischen von einer Polizeikette abgesperrten Gebäude legten am Wochenende Hunderte Bewohner Blumen für die Opfer nieder und entzündeten Kerzen. Zur Trauer gesellte sich Wut. Viele Bürger seien »aggressiv gestimmt« und äußerten Drohungen gegen die Anhänger der Kiewer Machthaber, berichtete die russische Agentur RIA Nowosti. Am Sonntag mittag hingen Aktivisten auch eine große russische Fahne aus. In Charkiw und Donezk gab es Solidaritätsdemonstrationen. »Odessa wird nicht verziehen«, war eine der Parolen.

Die Kiewer Machthaber versprachen unterdessen eine »umfassende und unparteiische« Ermittlung der Vorgänge. Die Ankündigung ist ehrgeizig, denn einstweilen haben sie diese Unvoreingenommenheit in ihren öffentlichen Erklärungen nicht an den Tag gelegt. Erst erklärte »Übergangspräsident« Turt­schinow den russischen Geheimdienst FSB für den Pogrom verantwortlich. Interessanterweise hatte er schon einige Tage vor dem blutigen Freitag von möglichen Provokationen unter anderem in Odessa gesprochen; jeder Geheimdienst, der auf sich hält, wäre an dieser Stelle gewarnt gewesen und hätte die Aktion abgeblasen. Noch am Freitag streuten die Kiewer Behörden, unter den Toten wären 15 Russen und fünf Personen aus Transnistrien. Am Sonntag dann gab die Polizei in Odessa bekannt, von den 46 Opfern seien erst 14 identifiziert: Bei allen handele es sich um ukrainische Staatsbürger mit Wohnsitz in Odessa. Auch die angeblichen Waffenfunde in dem Gewerkschaftshaus wurden von der örtlichen Polizei dementiert.

Die Version mit dem FSB als angeblichem Strippenzieher wurde von Kiewer Seite schon einen Tag nach dem Pogrom gegen eine andere ausgetauscht: Demnach soll der ehemalige Vizeregierungschef unter Präsident Wiktor Janukowitsch, Serhij Arbusow, die Unruhen angestiftet haben.

Unklar bleibt die Rolle der Polizei von Odessa. Während die Schläger noch wüteten, warf der regionale Gouverneur ihr vor, sie habe sich »nicht um das Land, sondern um ihre eigene Bequemlichkeit« gekümmert. Feigheit vor dem »Rechten Sektor«, soll das wohl heißen. Vielleicht ist es aber auch anders gewesen. RIA Nowosti meldete am Samstag unter Berufung auf hohe Offiziere im Kiewer Innenministerium, unter den Schlägern von Odessa seien auch in Zivil gekleidete Angehörige zweier Sondereinsatzbataillone der Polizei gewesen. Daß die Schläger auch mit Polizeischilden ausgerüstet waren, muß dagegen nicht zwangsläufig für eine Beteiligung von Polizeikräften sprechen. Die sogenannte Maidan-Selbstverteidigung hat in den Tagen des Umsturzes eine große Zahl dieser Schilde erbeutet. Einige hatten sie sogar mit »14. Hundertschaft der Selbstverteidigung« gekennzeichnet.

(rl)

*** Aus: junge Welt, Montag, 5. Mai, 2014


Bürgermeister und Militärchef

Die Mächtigen von Slawjansk

Von Klaus Joachim Herrmann

Lokaler Repräsentant der Aufständischen im Osten der Ukraine ist Wjatscheslaw Ponomarjow. Ob nun »Volksbürgermeister« im besetzten Rathaus von Slawjansk oder einfach nur starker Mann im Tarnanzug, er gibt offenbar Linien vor und die meisten Interviews. Zuletzt machte er sich mit der Festsetzung von Militärbeobachtern aus OSZE-Staaten und deren Vorführung als seinen »Gästen« einen Namen. Zuvor hatte er sie noch als »Kriegsgefangene« eingeordnet.

Der Endvierziger gilt als ehemaliger Seifenfabrikant, der in der russischen Nordmeerflotte eine reguläre militärische Vergangenheit haben soll. Er kann auch Bauunternehmer in Kiew gewesen sein, so genau weiß man das nicht. Nun gebietet er nach eigenen Abgaben über rund 2500 Kämpfer. Als sie unter seinem Kommando Stadtverwaltung, Geheimdienst und Polizeirevier besetzten, gewann Ponomarjow erstmals öffentliche Aufmerksamkeit.

Die genießt er. Mal martialisch, mal volkstümlich führt er eine deftige Sprache, lässt beim Lachen goldene Eckzähne aufblitzen, ist ruppig. Plötzlich war er da. Woher er kam, weiß niemand so recht. Auch nicht, auf wen er hört und wohin er will.

Deutlich weniger farbig und ziemlich einsilbig erscheint sein »Oberkommandierender« der aufständischen »Donezk-Armee«, Igor Strelkow. Der Mann heißt in der Übersetzung »Schütze« und wirkt nicht so recht wie ein Feldherr. Als er seine Maske abnahm, kam ein blasses schmales Gesicht mit Schnurrbart zum Vorschein.

Eine gewisse Unauffälligkeit ließe sich aus einer im Geheimdienst vermuteten Vergangenheit erklären. Genau das machen seine Widersacher in Kiew. Sie vermuten in ihm einen 43-jährigen aktiven oder auch inzwischen pensionierten Offizier des militärischen Geheimdienstes der Russen im Range eines Oberst. Bewiesen ist das natürlich nicht. Sicher aber steht er auf der EU-Sanktionsliste.

(neues deutschland, Montag, 5. Mai, 2014)




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Klaus Joachim Herrmann über die bessere ukrainische Möglichkeit ****

Das Entsetzen über die mörderische Barbarei in Odessa und die Freude über die Befreiung der in Slawjansk festgesetzten westlichen Militärbeobachter gehören gemeinsam zur Krise um die Ukraine. Wohin im Wortsinne angefeuerte Gewalt führt, zeigt der für so viele Menschen tödliche Brand. Besonnenheit und Dialog weisen in eine trotz aller Mühsal bessere Richtung.

In der ukrainischen Krise wurde wohl erstmals einem Vertreter Moskaus westlicher Dank zuteil – und sei es auch mit der rotzigen Anmerkung, dass eine erfolgreiche Vermittlung wegen der sonstigen russischen Politik ja wohl so etwas wie dessen Pflicht gewesen sei. Mag zudem der Kreml die prorussischen Milizen, wie behauptet, nicht mehr unter Kontrolle haben, besteht doch wohl noch einiger Einfluss. Den hat er sogar genutzt, um Leute des politischen Gegners aus dem Feuer zu holen. Er könnte also auch den Rückzug der Milizen versuchen.

Angemessene Leistung des Westens wäre endlich ein mäßigender Einfluss auf Kiew. Noch kommt aus Kiew der Marschbefehl für Panzer, und die CIA als Beratertruppe lässt Übles erwarten. Die bessere Möglichkeit zur Lösung der ukrainischen Krise wäre eine Verhandlungsorder. Wird nicht schnell gelöscht, gerät noch weit mehr in Brand als bisher.

**** Aus: neues deutschland, Montag, 5. Mai, 2014 (Kommentar)


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