Misshandlung als Alltag
Amnesty-Bericht erhebt schwere Vorwürfe gegen ukrainische Armee und Aufständische
Von Reinhard Lauterbach *
Die Misshandlung von Gefangenen ist im Krieg in der Ukraine offenbar auf beiden Seiten Alltag. Dies geht aus einem in diesen Tagen veröffentlichten Bericht von Amnesty International hervor. Der sorgfältig auf »Ausgewogenheit« zwischen beiden Konfliktparteien bedachte Report lässt gleichwohl Unterschiede im Detail erkennen: Proukrainischer »Spin« geht aus jener Schilderung hervor, wo ein Fall als Erschießung von Gefangenen durch Aufständische dargestellt wird. Faktisch wurde eine Kampfsituation beschrieben, als ukrainische Soldaten sich zu ergeben weigerten, und erschossen wurden, als sie noch keine Gefangenen waren.
Der Bericht beruht auf der Befragung von 33 Zeugen, die nach ihren Aussagen jeweils zur Hälfte in ukrainischer oder in der Hand der Aufständischen schweren körperlichen und psychischen Misshandlungen ausgesetzt waren. Die Wahrscheinlichkeit, in Gefangenschaft misshandelt zu werden, ist offenbar hoch. In der Amnesty-Stichprobe lag sie bei über 90 Prozent.
Auf beiden Seiten praktiziert werden demnach Schläge und »verschärfte Verhöre«, auf Regierungsseite kommen Scheinhinrichtungen, Elektroschockfolter und das Begraben bei lebendigem Leibe hinzu. Verbreitet ist dort auch das Verweigern medizinischer Hilfe teilweise über Wochen, während auf seiten der Aufständischen in der Regel verletzte Gefangene relativ rasch in Krankenhäuser gebracht werden.
Während Amnesty es so darstellt, dass auf beiden Seiten vorwiegend irreguläre Formationen, vor allem Freiwilligenbataillone, für die Misshandlungen verantwortlich seien, geht aus den Zeugenaussagen im Detail hervor, dass auch die offizielle ukrainische Polizei und vor allem der Geheimdienst SBU an den Folterungen beteiligt sind. Ein Zeuge berichtet sogar, seine Behandlung durch den SBU sei schlimmer gewesen als der Umgang des »Rechten Sektors« mit ihm.
Ein weiterer bemerkbarer Unterschied ist, dass mehrere Zeugen, die von Misshandlungen durch Aufständische berichten, auch schilderten, dass diese später eingestellt worden seien, nachdem andere Kämpfer der »Volksrepubliken« die Täter zurechtgewiesen hätten. Ohne sie entschuldigen zu wollen, scheinen die Misshandlungen auf seiten der Aufständischen eher Exzesstaten gewesen zu sein – in einem Fall soll ein Kämpfer versucht haben, sich für eine zuvor ihm selbst zugefügte Verletzung zu rächen –, während der »Rechte Sektor« nach den Zeugenaussagen erstens regelmäßig Lösegeld erpresst und zweitens systematisch dem SBU Gefangene zur weiteren Vernehmung zuliefert. Diese Zusammenarbeit bestätigte gegenüber Amnesty der offizielle Sprecher des »Rechten Sektors« – die anderen Vorwürfe bestritt er naheliegenderweise. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hat nach Aussage des Berichts bis zu dessen Redaktionsschluss Mitte Mai keine Antwort auf die Vorwürfe gegeben.
Dafür, dass es auf ukrainischer Seite eine zumindest stillschweigende Duldung solcher Praktiken gibt, spricht als Indiz eine in der vergangenen Woche vom ukrainischen Parlament verabschiedete Resolution. In dem am 22. Mai beschlossenen Dokument wird die Ukraine aufgefordert, für die Dauer des Konflikts im Donbass etliche Verpflichtungen aus internationalen Menschenrechtskonventionen, die das Land unterzeichnet hat, auszusetzen.
Es geht dabei insbesondere um die Paragraphen, die Gefangenen faire Verfahren garantieren und die Anwendung der Folter ausschließen sollen. Das Ziel einer solchen Aussetzung ist, möglicher Kritik bei weiteren Fällen den juristischen Angriffspunkt zu nehmen. Eine Parlamentsresolution ist zwar zunächst nur eine Aufforderung an die Regierung, die entsprechende Kündigung auszusprechen. Da sie aber mit der Mehrheit der »proeuropäischen« Parteien in der Werchowna Rada verabschiedet wurde, gibt sie doch einen Einblick in die Haltung der ukrainischen Machthaber zu Rechtsstaat und Bürgerrechten.
Im Donbass selbst geht der Beschuss unterdessen Tag für Tag weiter. Am Dienstag abend kamen bei einem ukrainischen Artillerieangriff auf die Stadt Gorlowka nördlich von Donezk mindestens drei Menschen ums Leben, darunter auch ein elfjähriges Kind. Fernsehbilder zeigten unter anderem eine Wohnküche, in die eine Granate eingeschlagen war. Ein Topf mit Suppe stand noch auf dem Tisch.
* Aus: junge Welt, Freitag, 29. Mai 2015
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