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Ein Monat voller Spekulationen

Die Absturzursache von Flug MH17 ist weiter unklar – noch immer sind die Schuldigen nicht benannt

Von René Heilig *

Vor einem Monat starben über der Ukraine alle Insassen eines malaysischen Linienfluges. Die Ursache des Absturzes ist unklar. Erst für September werden erste Untersuchungsergebnisse angekündigt.

Dass die mit der Untersuchung der Flugzeug-Katastrophe befassten Experten noch keinen endgültigen Bericht veröffentlicht haben, sollte nicht verwundern. Auch bei minderschweren Fällen dauert es oft Monate, manchmal sogar Jahre, bis ein bestandskräftiges Urteil vorliegt.

Und doch gibt es angesichts der politischen Situation im Absturzgebiet gewichtige Gründe zur Ungeduld. Die versuchte Wim van der Weegen Ende vergangener Woche zu dämpfen. Im September, so sagt der Sprecher beim niederländischen Rat für Sicherheit, werde man vorläufige Analysen verschiedener Quellen wie Flugschreiber, Flugsicherung, Satellitenaufnahmen und die Beurteilungen der internationalen Experten, die vor Ort waren, öffentlich machen.

Die Koordination der Absturzursachenforschung liegt bei Onderzoeksraad Voor Veiligheid, kurz OVV. Das ist eben jener Rat, den van der Weegen nach außen vertritt. Die staatliche Organisation übernimmt das Krisenmanagement bei nationalen Katastrophen wie schweren Unfällen in der Luftfahrt, im Bahnverkehr oder bei Seuchen.

Im britischen Farnborough untersuchen Fachleute im OVV-Auftrag die zwei Flugschreiber der Boeing. Sie seien bereits ausgelesen, sagte van der Wegen. Die Analyse brauche Zeit. Allerdings hieß es schon vor einer Woche, man habe »genügend Material für einen vorläufigen Bericht«.

Doch man hat Anfang August – nachdem vor allem durch Kiewer Geplapper Wildwuchs bei der Interpretation von Indizien aufgetreten war – beschlossen, dass keine beteiligte Behörde, kein Staat und keine Organisation Einzelergebnisse vorlegt. So bemüht man sich, neuen Spekulationsversuchen die Nahrung zu nehmen. Doch diese Verabredung ist ihrerseits schon wieder für viele mehr oder weniger selbst ernannte Experten Grund genug, um an eine multinationale Verschwörung zu glauben.

Eine andere Quelle für die Untersuchung der Unfallursachen ist die Arbeit der Gerichtsmediziner. Man hat dem in einer Kaserne im niederländischen Hilversum beschäftigten internationalen Team 176 Leichen sowie 527 Leichenteile übergeben. Es heißt, man habe bislang nahezu 100 der 298 Opfer identifiziert. Die Angehörigen seien informiert worden, betont das Justizministerium in Den Haag und fügt sogleich hinzu, dass die Bemühungen um die Identifizierung sowie die Zuordnung persönlicher Gegenstände noch Monate in Anspruch nehmen werden.

Keine Aussagen gibt es über die Vollständigkeit und Qualität jener Unterlagen, die von der ukrainischen Flugsicherung beigesteuert wurden. Gleichfalls Null-Informationen hat man über die Satellitendaten, über deren Existenz bislang nur spekuliert wird. Was die USA den ukrainischen Verbündeten gezeigt haben, ist höchst unklar. Es sei »kein Geheimnis«, woher die Waffen für den Abschuss stammten, hatte Washingtons Außenminister John Kerry getönt, doch auch er wich – statt konkreter zu werden – letztlich auf die richtige Formel von einer umfassenden Untersuchung aus, die notwendig sei, um »jegliche weitere Schritte« zu legitimieren.

Schritte welcher Art? Gegen wen? Mit welchem Ziel? Russland, das von den USA und der Ukraine sofort verdächtigt worden war, die Separatisten mit der vermuteten Abschusswaffe, den »Buk«-Fla-Raketen-Komplexen ausgerüstet zu haben, hat das, was es an Beobachtungen beitragen kann oder will, öffentlich gemacht. Moskaus Weltraumtruppen behaupten auch, dass am 17. Juli von 17.06 Uhr bis 17.21 Uhr ein US-Spionagesatellit über dem Abschussgebiet war, der speziell ausgerüstet sei für die Aufklärung und Erkennung von Starts ballistischer Raketen. Es wäre hilfreich zu erfahren, was der registriert hat.

Eine geordnete Tatortarbeit im Abschussgebiet war nicht möglich. Der ukrainische Präsident Pjotr Poroschenko hatte zwar einen Waffenstillstand für einen Radius von 40 Kilometern um die Absturzstelle versprochen, dann rückten die ukrainischen Streitkräfte aber doch vor, um die Orte in der Umgebung und die Absturzstelle von Separatisten – oder wer weiß, wovon noch – zu »säubern«. Weshalb in unmittelbarer Umgebung von Trümmern gekämpft wird.

Deren Lage und eilige Materialanalysen ergaben massive Indizien dafür, dass die Boeing abgeschossen wurde. Womit und von wem, diese Frage bleibt vorerst ungeklärt. Auch der Flugdatenschreiber sowie der Voice-Rekorder werden nicht die Lösung anbieten. Der Datenrekorder speichert die wichtigsten technischen Parameter, wie die Druckverhältnisse in Tanks und Kabine, die Drehzahl und Temperatur der Triebwerke, Rudereinstellung und Klappenstand, die Lage des Flugzeuges, Kurs und Geschwindigkeit. Man wird in allen Parametern eine schlagartige Veränderung des Normalzustandes feststellen. Was die – vermutlich äußere – Ursache dafür ist, sagen die Daten nicht. Ähnlich ist das mit dem aufgezeichneten Gespräch der Piloten im Cockpit und mit den Lotsen am Boden. Wenn die Maschine tatsächlich in die Schrapnellwolke einer Abwehrrakete geflogen ist, wird es keinen Dialog mehr gegeben haben. Auch die zivilen Radardaten sind nicht geeignet, um die Annäherung einer Fla-Rakete zu entdecken. Die Obduktionsergebnisse können zwar durch die Art der Verletzung einiges zur Aufklärung beitragen, doch sie helfen natürlich nicht, zweifelsfrei zu klären, was den Flug MH17 zum Absturz gebracht hat. Schon gar nicht, wer dafür verantwortlich ist.

Da auch einen Monat nach dem Geschehen keine Seite einen Nutzen aus dem Abschuss der Zivilmaschine schlagen kann, ist die These von einem Versehen durchaus wahrscheinlich. Und damit geriete vor allem die ukrainische Truppenluftabwehr in den Fokus. Russische Aufklärungsdaten besagen, dass das 156. ukrainische Fla-Raketenregiment in dem Raum entfaltet gewesen sei und dass zwei ukrainische Su-25 als Übungspartner anflogen.

Rein technisch und militärtaktisch ließe es sich erklären, dass bei einer Übung mit eigenen Jets die Radarsignaturen einer kleinen Suchoj von der großen Reflexfläche der Boeing überlagert werden, selbst wenn die tausende Meter oberhalb fliegt.

So lange das Radar der Raketenrampe die eigene Maschine verfolgt, registriert das System durch die »Freund-Feind-Kennung, dass es sich um eine eigene Maschine handelt und blockiert den Start einer Rakete. Schaltet das Radar jedoch auf das größere »Ziel« um, fällt die elektronische Antwort »ich bin ein Freund« weg. Die zivile Boeing hat kein entsprechendes Gerät, das antworten kann. Falls die Raketenbedienung zuvor beim Training schon den Startknopf gedrückt hatte, könnte das Unheil so seinen Lauf genommen haben.

Bei einer gründlichen Absuche des Absturzareals könnten auch Trümmer der Fla-Rakete entdecken. Auf den Triebwerks- und Geräteblöcken sind Typen- und Herstellerschilder zu finden. Es wäre – jenseits politischer Ränkespiele – ein Leichtes für Russland und die Ukraine, herauszufinden, in wessen Bestand die »Buk« am 17. Juli 2014 war. Doch genau diese gründliche Absuche kann nicht stattfinden. Es herrscht weiter Krieg in der Ostukraine.

* Aus: neues deutschland, Montag 18. August 2014


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