Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Schleppende Untersuchung

Kämpfe in der Ostukraine behindern Ermittler in Sachen Absturz MH17 *

Angesichts heftiger Kämpfe in der Ostukraine ist es den internationalen Ermittlern am Donnerstag zunächst nicht gelungen, zum Absturzort der malaysischen Passagiermaschine zu kommen.

»Die Experten sind noch immer in Kiew und Charkow, sie konnten sich aus Sicherheitsgründen nicht zum Absturzort begeben«, teilte die niederländische Sicherheitsbehörde OVV mit, die die Untersuchungen leitet, weil 193 der Todesopfer aus den Niederlanden stammen. Die EU-Staaten berieten derweil über schärfere Sanktionen gegen Moskau.

Laut den Berichten von AFP-Reportern nahmen die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Separatisten im Osten der Ukraine deutlich zu.

Kiew und der Westen geben Moskau auch eine Mitschuld am Absturz von MH17 mit 298 Toten. Moskau wies die Vorwürfe am Donnerstag erneut vehement zurück und verlangte von den USA die Vorlage von Beweisen für einen Abschuss der Boeing 777 durch die Separatisten.

Die Flugschreiber der Maschine waren vom Niederländischen Untersuchungsbüro für Sicherheit (OVV) an Experten in Großbritannien weitergeleitet worden. Die Briten hätten bei einer ersten Untersuchung des Cockpit-Stimmenrekorders festgestellt, dass das Gerät zwar beschädigt ist, aber keine Zeichen von Manipulation aufweist, erklärte das OVV am Mittwochabend. Am Donnerstag begannen die Experten in Großbritannien auch mit der Untersuchung des Flugdatenschreibers.

Ebenfalls am Donnerstag startete eine weitere Maschine mit Leichen aus Charkow in Richtung Niederlande. Entgegen ersten ukrainischen Meldungen, wonach Leichen oder Leichenteile aller Passagiere nach Charkow gebracht wurden, sind offenbar noch nicht alle Todesopfer geborgen.

* Aus: neues deutschland, Freitag 25. Juli 2014


Feldzug gegen KP der Ukraine

Rada-Fraktion aufgelöst, Verbotsprozess läuft

Von Detlef D. Pries **


Die Parlamentsfraktion der Kommunistischen Partei der Ukraine wurde am Donnerstag zwangsaufgelöst. Am gleichen Tag begann in Kiew ein Verbotsverfahren gegen die Partei.

Alexander Turtschinow, Präsident der Werchowna Rada, erfüllte am Donnerstag – wie tags zuvor angekündigt – eine »historische Mission«. Der für Julia Timoschenkos »Vaterland« ins Parlament gewählte Volksvertreter verkündete die Auflösung der Fraktion der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) und fügte unter dem Beifall der rechten Mehrheit hinzu: »Ich hoffe, dass es auch künftig keine kommunistische Fraktion im ukrainischen Parlament mehr geben wird.«

Die gesetzliche Grundlage dafür, die Rechte der Kommunisten im Parlament erheblich zu beschneiden, hatten die Rechten im Eilverfahren durchgepeitscht. Die »Lex KPU« kam ganz ohne politische Begründung aus. In Kurzfassung: Verliert die kleinste Fraktion der Rada im Laufe der Legislaturperiode Mitglieder, kann sie vom Parlamentspräsidenten aufgelöst werden. So beschlossen am Dienstag und von Präsident Petro Poroschenko am Mittwoch unterzeichnet. Noch am gleichen Tag versicherte Turtschinow, man werde die Kommunisten nur noch wenige Stunden in der Rada »ertragen« müssen, doch sei die Veröffentlichung des Gesetzes im Amtsblatt abzuwarten. Das geschah am Donnerstag.

Die KPU hatte bei den Wahlen 2012 mehr als 13 Prozent der Zweitstimmen erhalten und war mit 32 Abgeordneten in die Rada eingezogen. Die rechtsradikale Partei »Swoboda« hatte zwar das schlechtere Zweitstimmenergebnis, in der Westukraine jedoch mehrere Direktmandate gewonnen. Sie stellte 37 Abgeordnete. Als nach Beginn der »Maidan-Bewegung« zunächst im Westen, später auch in Kiew und andernorts KPU-Büros gestürmt und Parteimitglieder überfallen wurden, verließen mehrere Abgeordnete die Fraktion, die zuletzt noch 23 Mitglieder zählte. Es bedurfte also nur eines passenden Gesetzes, um die politischen Störenfriede auszuschalten, die immer wieder das »neofaschistische Regime« anklagten und gegen den zur »ATO« (Anti-Terroristische Operation) verkürzten Krieg in der Ostukraine auftraten.

Noch als Übergangspräsident hatte Turtschinow selbst das Justizministerium beauftragt, eine Parteiverbotsklage gegen die KPU vorzubereiten. Die wird seit Donnerstag vor einem Kiewer Verwaltungsgericht verhandelt. Die Kommunisten werden verfassungswidriger Aktivitäten beschuldigt, darunter »Unterstützung von Separatisten und Terroristen« in der Ostukraine und Beihilfe zur »militärischen Aggression« Russlands. Der KPU-Chef Petro Symonenko nennt die Vorwürfe »unseriös und lächerlich«.

Gar nicht lächerlich war am Donnerstag der Auflauf dutzender Nationalisten vor dem Gericht. Unter Polizeischutz durften sie laut Agentur UNIAN auf Plakaten unter anderem »Komunjaku na Giljaku!« fordern – Kommunisten an den Galgen ... «

Wolfgang Gehrcke, Vizevorsitzender der Linksfraktion im Bundestag, zog in einer Presseerklärung ein bitteres Fazit: »In der ukrainischen Regierung sitzen Faschisten. Der Rechte Sektor dominiert die Nationalgarde und die gleiche Regierung löst die Fraktion der kommunistischen Partei auf.«

** Aus: neues deutschland, Freitag 25. Juli 2014


»Beschämend für dieses Parlament«

Alla Alexandrowna (KPU) sieht Bürgerrechte und Freiheiten in ernster Gefahr ***

Alla Alexandrowna ist Erste Sekretärin der KP der Ukraine im gebiet Charkow. Sie war 14 Jahre lang Abgeordnete der Werchowna Rada. Tina Schiwatschewa befragte sie für »nd« telefonisch.

Der KPU droht schon seit einiger Zeit ein Verbot. Was geschieht derzeit?

Die Gefahr des Parteiverbots ist sehr real. Am Donnerstag begann das Gerichtsverfahren, das vom Justizministerium angestrengt wurde.

Worauf führen Sie diese Verfolgung zurück?

Der Hintergrund für die Verfolgung ist unsere Kritik an der Regierung, vor allem unsere harte Kritik an der sogenannten Anti-Terror-Operation, die sich gegen das eigene Volk richtet. Da werden unschuldige, friedliche Menschen getötet, die Arme setzt Flugzeuge und Panzer ein, um Wohngebiete und Zivilisten zu bombardieren. Das muss aufhören.

Was bedeutet die Auflösung der KPU-Fraktion in der Rada für die Partei?

Die Möglichkeit der KPU, an der parlamentarischen Arbeit und der Beschlussfassung teilzunehmen, wird erheblich beschränkt. Die Partei verliert einen Großteil ihrer Fähigkeit zur Wählervertretung. Die KPU hatte die Unterstützung von fast 3 Millionen Wählern. Diese Stimmen finden nur noch sehr eingeschränkt Gehör in der Werchowna Rada.

Der KPU-Vorsitzende Petro Symonenko wurde am Mittwoch in der Rada erneut körperlich angegriffen. Wie kam es dazu?

Symonenko hatte ein weiteres Mal seine tiefe Besorgnis über den Tod von Zivilisten und die Zerstörungen in der Ostukraine geäußert. Daraufhin stellte ein Swoboda-Abgeordneter den Antrag, Symonenko von allen Sitzungen der Rada auszuschließen. Da der Antrag nicht sofort behandelt wurde, schritten die Swoboda-Leute zur Tat. Beschämend für dieses Parlament!

Das wirft die Frage auf, ob man heute noch ungefährdet seine Kritik an der Regierung äußern kann.

Die zivilen Rechte und Freiheiten der Bürger in der Ukraine sind sehr bedroht. Wer seine Meinung sagt, läuft Gefahr, gekidnappt zu werden, Rechtsradikale Organisationen sind mächtig und rücksichtslos.

*** Aus: neues deutschland, Freitag 25. Juli 2014


Kiewer Frontbegradigung

Parlamentsfraktion der KPU aufgelöst. Vorbereitungen für Neuwahlen

Von Reinhard Lauterbach ****


Im ukrainischen Parlament, der »Werchowna Rada«, gibt es keine kommunistische Fraktion mehr. Der amtierende Parlamentspräsident Olexander Turtschinow erklärte die Fraktion der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) am Donnerstag morgen für aufgelöst. Zuvor hatte die regierende Mehrheit die Mindestzahl an Abgeordneten, die für den Fraktionsstatus erforderlich sind, erhöht. Die seit dem Putsch im Februar durch eine Reihe von Austritten von 32 auf 23 Mitglieder geschrumpfte Fraktion der KPU verliert durch die neue Bestimmung ihren Status. Turtschinow bezeichnete sein Vorgehen als »historischen Moment«. Er hoffe, daß sich nie wieder eine kommunistische Fraktion im ukrainischen Parlament zeigen werde. Da die bestehenden Mandate aus rechtlichen Gründen nicht kassiert werden können, wurden die verbliebenen Kommunisten systematisch am Reden gehindert. Abgeordnete der faschistischen »Swoboda«-Partei schlugen auf den KPU-Vorsitzenden Simonenko ein und zerrten ihn aus dem Plenarsaal. Sie warfen ihm kritische Äußerungen über die »Antiterror­operation« im Donbass in russischen Medien vor. Die deutsche Nachrichtenagentur dpa bezeichnete den Übergriff als »tumultartige Szenen unter Beteiligung der Kommunisten«, ohne die Täter zu nennen. Derweil erklärten die »Swoboda«-Fraktion und die ebenfalls mitregierende Partei UDAR von Witali Klitschko ihren Austritt aus der Regierungsmehrheit. Der Schritt ist ein abgekartetes Spiel; er beraubt die Regierung von Ministerpräsident Arseni Jazenjuk rechnerisch ihrer Mehrheit, so daß vorgezogene Parlamentsneuwahlen möglich werden. Wie Jazenjuk am Abend mitteilte, trat seine Regierung inzwischen zurück. Mehrere Abgeordnete erklärten, der Schritt ändere nichts daran, daß sie Schlüsselprojekte wie die Ratifizierung des EU-Assoziierungsabkommens unterstützen würden. Die Legislaturperiode hätte eigentlich noch bis 2016 gedauert. Es wird erwartet, daß Präsident Petro Poroschenko am ukrainischen Unabhängigkeitstag, dem 24. August, das Parlament auflöst und Neuwahlen anordnet. Diese könnten dann Ende Oktober stattfinden.

Parallel zur parlamentarischen Entmachtung der KPU begann die ukrainische Justiz ein Verbotsverfahren gegen die Partei. Es stützt sich auf den Vorwurf, die »Separatisten« zu unterstützen und so die territoriale Einheit der Ukraine in Frage zu stellen. Wie die Sprecherin der Generalstaatsanwaltschaft mitteilte, laufen im Moment außerdem 308 individuelle Ermittlungsverfahren gegen Funktionäre der KPU. Das für das Verbotsverfahren zuständige Gericht vertagte das Verfahren auf den 14. August. In der ersten Sitzung wurde allerdings mehreren Beweisanträgen der Verteidigung stattgegeben.

Im Donbass versuchen die Rebellen derweil offenbar, nach mehreren Rückzügen ihre Positionen in den Städten Donezk und Lugansk zu konsolidieren. Sprecher des Kiewer Regimes berichteten, die Kämpfer der Aufständischen hätten weitere Brücken gesprengt, um den Vormarsch der Armee zu verlangsamen. Dadurch seien auch Wasserleitungsrohre beschädigt worden. Gleichzeitig starteten die Aufständischen lokale Gegenangriffe im Raum Donezk.

An der Propagandafront erhob die ukrainische Seite neue schwere Vorwürfe gegen die Aufständischen. Der Pressesprecher des nationalen Sicherheitsrates, Andrej Lisenko, erklärte, sie hätten vor ihrem Abzug aus Slowjansk in den dortigen Schulen Sprengstoffpakete mit Zeitzündern versteckt, um sie zum Schulbeginn Anfang September zu zünden. Gleichzeitig ruderte der Mann in der Auseinandersetzung um den Abschuß des malaysischen Passagierflugzeugs zurück: Seine Aussage, das Flugzeug sei von einer »hochqualifizierten Mannschaft aus Rußland« abgeschossen, sei keine Tatsachenbehauptung gewesen, sondern nur »eine mögliche Version«. Der Kommandeur des auf seiten der Aufständischen kämpfenden Bataillons »Wostok«, Alexander Chodakowski, warf der britischen Agentur Reuters vor, ein Videointerview mit ihm gefälscht zu haben. Er habe nie gesagt, seine Einheit habe ein weitreichendes Raketenabwehrsystem vom Typ »BUK«. Der Kommandeur kündigte an, seine eigene ungeschnittene Videoaufzeichnung des Gesprächs zu veröffentlichen, um seine Vorwürfe zu beweisen.

**** Aus: junge Welt, Freitag 25. Juli 2014


Diplomatische Post an Frau Merkel

Detlef D. Pries zum Verbotsverfahren gegen die KP der Ukraine *****

Gennadi Sjuganow, Vorsitzender der KP der Russischen Föderation, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel neben anderen Politikern brieflich gebeten, ihre Stimme gegen das beabsichtigte Verbot der KP der Ukraine zu erheben. Wenn die EU-Staaten – als »wahre Herren der Ukraine« – demokratischen Werten ergeben seien, dürften sie dieses Parteiverbot nicht zulassen, hieß es aus der KP-Zentrale in Moskau.

Verständlich, dass Sjuganow seine Genossen verteidigt. Aber muss man Kommunist sein, um für die Wahrung demokratischer Rechte in der Ukraine einzutreten? Unvergessen sind Pastor Niemöllers Worte: »Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. ... Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.« Nein, die Ukraine ist nicht Nazi-Deutschland. Und vielleicht gehört es zu den Fehlern der KPU, die Maidan-Bewegung als Ganzes für neofaschistisch zu erklären. Doch wie immer man ihre Politik beurteilt: Gewählt von fast drei Millionen Ukrainern, gebührt ihr das Recht, innerhalb wie außerhalb des Parlaments gehört zu werden. Die Zwangsauflösung der Fraktion, gedacht als erster Schritt zum Parteiverbot, beschneidet dieses Recht rigoros. Und die Bundeskanzlerin täte gut daran, ihren Freunden in Kiew klar zu machen, dass demokratische Freiheiten auch Andersdenkenden zustehen.

***** Aus: neues deutschland, Freitag 25. Juli 2014 (Kommentar)


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage