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MH17: Regierung warnte nicht vor Abschussgefahr

Abschuss der MH17 über der Ostukraine hätte durch schnellere Informationspreisgabe verhindert werden können *

298 Menschen starben bei einem Abschuss der MH17 über der Ostukraine. Die Bundesregierung wusste von der Gefahr in dem Luftraum über dem Krisengebiet, dennoch informierte sie nicht die Fluggesellschaften.

Vor dem Abschuss der Boeing 777 der Malaysia Airlines über der Ostukraine haben der Bundesregierung Medienberichten zufolge klare Gefahrenhinweise vorgelegen, die sie nicht an deutsche Fluggesellschaften weiter gegeben habe. Dies berichten WDR, NDR und »Süddeutsche Zeitung« mit Hinweis auf vertrauliche Drahtberichte des Auswärtigen Amtes. Bei dem Abschuss der Maschine mit der Flugnummer MH 17 waren am 17. Juli vergangenen Jahres 298 Menschen ums Leben gekommen.

An diesem Tag flogen dem Medienbericht zufolge auch drei Maschinen der Lufthansa über das Gebiet, eine davon nur zwanzig Minuten vor MH 17. Wenige Tage zuvor hätten Diplomaten des Auswärtigen Amtes die Lage in der Ostukraine in einem Drahtbericht als »besorgniserregend« bezeichnet. Als Grund für die Einschätzung sei der Abschuss einer Antonow-Militärmaschine in einer Höhe von mehr als 6000 Metern genannt worden, der »eine neue Qualität« darstelle, zitierte sueddeutsche.de aus dem Bericht des Auswärtigen Amtes.

Der Abschuss eines Flugzeuges in dieser Höhe sei für Militärexperten ein klarer Hinweis, dass auch Ziele in größeren Höhen getroffen werden können, also auch eine Gefahr für zivile Passagiermaschinen bestehe, heißt es in dem Medienbericht. Dass die Luftsicherheit über der Ukraine nicht mehr gegeben sei, habe auch der Bundesnachrichtendienst in seinen täglichen Berichten mitgeteilt.

Üblicherweise müssten die Fluglinien umgehend über eine veränderte Sicherheitslage informiert werden, heißt es in dem Medienbericht. Dies sei jedoch erst nach dem Abschuss der MH17 geschehen. »Fakt ist, dass uns keine Informationen von Seiten der Behörden vor dem 17. Juli vorlagen«, zitiert der Rechercheverbund einen Sprecher der Lufthansa. »Wenn die Bundesregierung unser Unternehmen mit der Bewertung neue Qualität gewarnt hätte, wäre Lufthansa sicher nicht mehr über der Ostukraine geflogen«, erklärte demnach ein Insider der Fluggesellschaft.

Laut der knapp sechsmonatigen Recherche der Sender und der »SZ« gibt es »so gut wie keinen Zweifel mehr« daran, dass die Boeing 777 von einer Buk M1 aus dem Gebiet der Separatisten abgeschossen wurde.

* Aus: neues deutschland, Montag, 27. April 2015


Gefahr verschwiegen?

Fernsehdokumentation belastet Bundesregierung im Fall des über der Ostukraine abgeschossenen Malaysia-Airlines-Fluges MH17

Von Reinhard Lauterbach **


Video: ARD-Dokumentation Todesflug MH17 Die Bundesregierung soll die zivilen Luftfahrtgesellschaften im Juli 2014 nicht vor der konkreten Abschussgefahr über dem Donbass gewarnt haben. Zu diesem Ergebnis kommt eine gemeinsame Recherche von Reportern von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung. Der entsprechende Film wurde am späten Montag abend in der ARD ausgestrahlt. Wie die Süddeutsche Zeitung vorab berichtete, hatten der Auslandsgeheimdienst BND und die Botschaft in Kiew die Bundesregierung auf die erhöhte Gefahr aufmerksam gemacht, nachdem zwei Tage vor dem Abschuss der malaysischen Boeing die ostukrainischen Aufständischen ein ukrainisches Transportflugzeug in 6.500 Metern Höhe abgeschossen hatten. Das war oberhalb der Höhe, die mit kleinen schultergestützten Raketen erreicht werden kann, und deutete darauf hin, dass in der Region leistungsfähigere Flugabwehrraketen vorhanden waren. Auch die Ukraine hatte den Luftraum nur bis auf 10.000 Metern gesperrt, also unterhalb der Höhe, in der normalerweise der internationale Flugverkehr stattfindet.

Als Ergebnis der fehlenden Warnung änderte die Lufthansa, die auf dem Weg nach Südostasien regelmäßig die Ukraine überflog, ihre Flugrouten nicht. Andere große europäische Fluglinien wie Air France und British Airways hatten – aufgrund von Warnungen ihrer nationalen Geheimdienste oder weil jemand in der Leitung mitdachte und nicht nur auf Kerosinersparnis orientiert war – schon Wochen vor dem Abschuss von MH17 den Luftraum über dem Donbass weiträumig umflogen.

Zur Frage, wer die malaysische Maschine abgeschossen hat, bringt der Film Indizien dafür, dass dies doch mit einer BUK-Batterie russischer Herkunft geschah. Die von russischer Seite vertretene Hypothese des Abschusses aus einem ukrainischen Kampfflugzeug des Typs SU-25 wird von einem Konstrukteur dieses Modells zurückgewiesen: Der Ingenieur erklärte den Reportern, die SU-25 wäre, wenn sie in einer Höhe von 10.000 Metern eine Rakete abgefeuert hätte, daran selbst zerbrochen und abgestürzt. Der von russischer Seite aufgrund einer Zeugenaussage zeitweise als mutmaßlicher Todesschütze identifizierte ukrainische Pilot erklärte, die von dem Zeugen als Beleg geschilderten Ereignisse hätten sechs Tage später in anderem Kontext stattgefunden.

Die Autoren des Films legen nahe, Russland sei für den Abschuss verantwortlich und werde wegen der damit verbundenen politischen Konsequenzen durch ein Schweigekartell der westlichen Politik gedeckt. Einzelne Aussagen des Films lassen aber auch eine ukrainische Provokation möglich erscheinen. Am Morgen des Abschusstages wurde nach dem Bericht auf dem Flughafen von Dnipropetrowsk ein Fluglotse festgenommen, der von seinem Handy aus die Aufständischen über Starts ukrainischer Militärjets informiert habe. Das Handy war zum Zeitpunkt des Abschusses in der Hand der Sicherheitsbehörden. Es wäre also ein leichtes gewesen, den fiktiven Start einer Militärmaschine anzukündigen.

Schließlich zitiert der Film einen ehemaligen Angehörigen der CIA, der auf eine kleine Abweichung in der Wortwahl hinwies: Das US-amerikanische Dokument, das Russland für den Abschuss verantwortlich mache, trage den Titel »Government assessment« (Regierungseinschätzung). Üblich sei dagegen der Titel »Intelligence assessment« (Geheimdiensteinschätzung). Schlussfolgerung des Zeugen: Die US-Geheimdienste waren wohl nicht überzeugt, das das Beweismaterial die Schlussfolgerung trage. Der Film endet mit Zweifeln daran, ob die Wahrheit je ans Licht kommen wird.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 28. April 2015


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