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Passagiermaschine über Donbass abgestürzt

Verdacht auf Abschuss / EU verschärfte Sanktionen gegen Russland

Von Klaus Joachim Herrmann *

Moskau sprach von Erpressung, Kiew von Solidarität: Die EU und die USA verschärfen ihre Sanktionen gegen Russland.

Den Absturz einer malaysischen Passagiermaschine Boeing 777 mit 295 Menschen an Bord über dem ostukrainischen Krisengebiet Donbass meldeten am Donnerstagabend mehrere russische und ukrainische Agenturen. In ersten Meldungen wurde auch von einem Abschuss aus zehn Kilometer Höhe gesprochen. Die »Volksrepublik Donezk« wies eine Beteiligung zurück. Sie verfüge nicht über Raketen einer Reichweite von mehr als drei Kilometern.

Zuvor waren verschärfte Sanktionen der EU gegen Russland das Hauptthema der ukrainischen Krise. Präsident Petro Poroschenko bekundete seine Freude. »Europa hat seine Solidarität mit der Ukraine demonstriert«, lobte er. Der russische Beitrag zum Frieden in der Ukraine sei »nicht ausreichend«, begründete Bundeskanzlerin Angela Merkel dieses Vorgehen beim EU-Gipfel in Brüssel.

Im Visier sind nun Unternehmen, staatliche Stellen oder Finanzierungen. Neue US-Maßnahmen richten sich besonders gegen Rüstungs-, Finanz- und Energiesektor. Die Europäer hätten sich »der Erpressung der US-Regierung gebeugt«, erklärte das russische Außenministerium.

Das Drehbuch dafür, was in der Ukraine zum offenen Krieg mit Nachbarn führen werde, liege »in Washington und in keiner europäischen Hauptstadt«, schrieb Verteidigungsexperte Willy Wimmer (CDU), ehemaliger Vizepräsident der OSZE, im Internetportal Telepolis. Jeder europäische Lösungsversuch werde »durch den ukrainischen Präsidenten und seine Master in Washington hintertrieben«.

Der ukrainische Sicherheitsrat sah sich derweil genötigt, eine »Welle« schlechter Nachrichten als »Desinformation« zurückzuweisen. Per Telefon, SMS und Computer seien Bürger und Medien über große Opfer der Einsatzkräfte der »Anti-Terror-Operation« im Osten des Landes informiert worden. Mit ungeprüften Nachrichten werde nur Panik geschürt. Die offenbar geprüften und von örtlichen Medien verbreiteten blieben schlecht genug. So wurde aus Lugansk über die Zerstörung von 22 Wohnhäusern binnen 24 Stunden berichtet. Mehrere Stadtteile seien »unter Artilleriebeschuss geraten« und acht Bürger getötet worden.

Russland wurde beschuldigt, am Vorabend mit einem Kampfbomber einen ukrainische SU-25-Kampfjet abgeschossen zu haben. Das Verteidigungsministerium in Kiew sprach von Beschuss »wahrscheinlich mit Luft-Luft-Raketen«. Moskau erwiderte: »Absurd«.

Unter Hinweis auf »Reifenspuren« warf der ukrainische Grenzschutz Russland zudem vor, mit einer Militärkolonne in das Nachbarland eingedrungen zu sein. Zur mitgeführten Militärtechnik hätten Mehrfach-Raketenwerfer »Grad« (Hagel) sowie Schützenpanzer gehört.

Über Hilfe für 18 verletzte ukrainische Soldaten berichteten Medien beider Länder. Sie seien am Mittwoch in eine Klinik der russischen Stadt Gukowo gebracht worden.

* Aus: neues deutschland, Freitag 18. Juli 2014


Abschuß in Kampfzone?

295 Tote bei Absturz eines malaysischen Passagierflugzeugs in Ostukraine. USA und EU verhängen neue Sanktionen gegen Rußland. Putin warnt vor »sehr ernsten Schäden«

Von Knut Mellenthin **


Die US-Regierung hat am Mittwoch neue Sanktionen gegen Rußland bekanntgegeben. Sie richten sich gegen mehrere Großbanken, Energiekonzerne und Unternehmen der Rüstungsindustrie. Nach Einschätzung westlicher Me­dien handelt es sich um eine erhebliche qualitative Verschärfung der bisher schon praktizierten Strafmaßnahmen. Gleichzeitig kündigten auch die Staats- und Regierungschef der EU eine Verschärfung ihres Sanktionssystems gegen Rußland an. Präsident Barack Obama hatte zuvor offenen Druck auf seine europäischen Juniorpartner ausgeübt, um sie zum »Mitziehen« zu zwingen.

Obama begründete die Ausweitung der Strafmaßnahmen am Mittwoch damit, daß Rußland nicht seinen wiederholten Aufforderungen gefolgt sei, »den Fluß von Waffen und Kämpfern über die Grenze in die Ukraine zu beenden«, obwohl er dies seinem Kollegen Wladimir Putin direkt und deutlich eingeschärft habe. »Rußland hat es unterlassen, irgendeinen der von mir erwähnten Schritte zu unternehmen. Tatsächlich gehen Rußlands Unterstützung für die Separatisten und die Verletzungen der ukrainischen Souveränität weiter.«

Die neuen amerikanischen Sanktionen treffen die mit Rußlands bedeutendstem Energiekonzern verbundene Gasprombank und die staatliche Wneschekonombank (VEB), außerdem den größten russischen Ölkonzern, Rosneft, und OAO Nowatek, den zweitgrößten Gasproduzenten des Landes. Die Strafmaßnahmen schließen vor allem bestimmte Finanzierungsgeschäfte und Kredite aus, erlauben aber weiter die Tätigkeit dieser Unternehmen auf dem US-Markt und die Kooperation mit ihnen. Weit schärfer sind die Sanktionen gegen acht russische Rüstungsfirmen: Ihre Guthaben in den USA wurden beschlagnahmt, US-Bürgern und -Unternehmen sind Geschäfte mit den Betroffenen verboten.

Die EU will weitere Bürger Rußlands auf die Liste der Personen setzen, denen die Einreise zu verweigern ist und deren Guthaben im EU-Bereich zeitlich unbefristet »eingefroren« werden. Um wen es sich handelt, soll Ende des Monats bekanntgegeben werden. Schon jetzt weist diese Liste 72 Namen auf. Die EU-Kommission wurde beauftragt zu überprüfen, welche Kooperationsprogramme mit Rußland zeitweise ausgesetzt werden sollen. Außerdem soll die Kommission Empfehlungen geben, wie Investitionen auf der Krim eingeschränkt werden können. Die European Investment Bank (EIB) und die European Bank for Reconstruction and Development (EBRD) sollen einstweilen keine neuen Investitionen in Rußland vornehmen.

In einer ersten Reaktion erklärte Putin, der sich zur Zeit auf Besuch in Brasilien befindet, die neuen Maßnahmen »treiben die russisch-amerikanischen Beziehungen ohne jeden Zweifel in eine Sackgasse und fügen ihnen sehr ernste Schäden zu.« Es sei schade, daß »unsere Partner« diesen Weg gehen, »aber wir haben die Tür zu einem Verhandlungsprozeß nicht geschlossen, um aus dieser Situation wieder herauszukommen.«

Die Spannungen zwischen Ukraine und Rußland stiegen am Donnerstag weiter. Das russische Verteidigungsministerium nannte Vorwürfe Kiews, Rußland habe über der Ostukraine eine Maschine seiner Truppen abgeschossen, laut Nachrichtenagentur Interfax »absurd«. Ein Sprecher des ukrainischen Militärs hatte zuvor erklärt, Rußland habe am Mittwoch gegen 19 Uhr Ortszeit ein ukrainisches Kampfflugzeug vom Typ Suchoi Su-25 in der Luft angegriffen. Die dpa merkte an, es gebe keine Bestätigung für den Vorfall aus anderer Quelle, zudem sei unklar geblieben, »weshalb der angebliche Abschuß erst mit eintägiger Verspätung gemeldet wurde«.

Bei den Kämpfen in der Ostukraine gab es nach Meldungen beider Seiten erneut zahlreiche Tote und Verletzte. Die Aufständischen berichteten von Kampferfolgen und Landgewinnen. Sie erklärten, daß sie in Kürze die Stadt Slowjansk, die sie am 6. Juli überraschend aufgegeben hatten, zurückerobern wollten.

Das Innenministerium in Kiew rief die Bürger in Donezk und Lugansk erstmals auf, sich selbst gegen die aufständischen Kämpfer zur Wehr zu setzen. Es verwundere ihn, daß sich in einer Millionenstadt wie Donezk, in der »starke Männer, Bergarbeiter, mutige Menschen« leben, niemand den »bewaffneten Eindringlingen« entgegenstelle, erklärte ein Berater laut dpa. Kiews Innenminister, Arsen Awakow, forderte am Donnerstag auf Facebook: »Wir müssen ein Propagandaministerium gründen, ohne uns zu schämen. Das ist ein wichtiger Teil des Krieges – des Krieges um die Gehirne.«

Kurz vor jW-Redaktionsschluß berichteten mehrere Agenturen, daß eine Boeing 777 der malaysischen Luftfahrtgesellschaft mit 280 Passagieren und 15 Besatzungsmitgliedern an Bord in der Nähe der russisch-ukrainischen Grenze abgeschossen wurde. Alle 295 Menschen seien ums Leben gekommen.

** Aus: junge Welt, Freitag 18. Juli 2014


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