Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Trügerische Hoffnung

Niedrige Löhne, mangelnde Rechtssicherheit, falsche Versprechungen: Zur politischen Ökonomie der EU-Begeisterung in der Ukraine

Von Reinhard Lauterbach *

Wenn man in polnischer Sprache die Suchworte »Ukraine« und »Arbeitnehmer« in seinen Internetbrowser eingibt, kommt man ziemlich schnell auf die Seiten verschiedener Jobvermittler. »Brauchen Sie Leute für körperliche Arbeit, Traktoristen, Melker, Arbeitskräfte für die Schweine- und Geflügelmast, zur Ernte von Gemüse und Obst? Wir sind dank der Zusammenarbeit mit Arbeitsvermittlern in der Ukraine in der Lage, alle Ihre Bedürfnisse zu erfüllen«, schreibt die eine Agentur. Eine andere listet in holprigem Russisch konkrete Jobangebote auf: ein Arbeiter für eine Möbelfabrik in Westpolen, Stundenlohn 1,90 Euro, Schichten von zehn bis zwölf Stunden; Frauen sollen im Akkord in Zwölf-Stunden-Schichten Möbelbezüge nähen, kräftige Männer für 2,50 Euro pro Stunde Gleise verlegen – Knochenjobs, für die sich zu diesen Löhnen Einheimische nicht mehr finden. Das Lohnniveau in der Ukraine ist mindestens um den Faktor drei niedriger als in Polen, liegt also ungefähr um das Zehnfache unter dem deutschen.

Auf regierungsamtlichen Seiten kann man lesen, daß die Beschäftigung von Ukrainern in Polen die Lücken schließen helfe, die die Emigration von bis zu zwei Millionen Polen ins besser zahlende Westeuropa auf dem Arbeitsmarkt gerissen hat. Warschau fördert diesen ethnisch definierten Billiglohnsektor ganz bewußt. Etwa 300000 Ukrainer sind in den letzten Jahren für jeweils sechs Monate legal zur Arbeit ins Land geholt worden; niemand zählt, wie viele von ihnen nach dem Ablauf ihres Visums illegal dableiben und schwarz als Altenpflegerin, Haushaltshilfe oder Kinderfrau in wohlhabenden polnischen Familien, in der Landwirtschaft, auf Baustellen und in Hinterhoffirmen der Textilindustrie arbeiten. Aber es sind viele, das ist klar.

Die Migration nach »Europa« – oder aus der Ostukraine nach Rußland – ist für viele Ukrainer die einzige Chance. In ihrem Heimatland, für das das statistische Zentralamt gerade erst aktuelle Einkommensdaten veröffentlicht hat, beträgt der Durchschnittslohn umgerechnet 300, der Mindestlohn 110 Euro. Mehr noch: Die Gehaltsrückstände lagen im September bei drei Prozent des vertraglich vereinbarten Lohnfonds. Das heißt praktisch: Einer von 33 Beschäftigten wird trotz geleisteter Arbeit nicht bezahlt, oder anders gerechnet: Jeden kann es einmal in zweieinhalb Jahren erwischen. Nur etwa 40 Prozent der Lohnrückstände ergeben sich aus dem Konkurs von Unternehmen. In den anderen Fällen hat der Besitzer oder staatliche Direktor einfach keine Lust zu zahlen oder wartet selbst auf Zahlungen von Kunden. Er läßt es gegenüber den Beschäftigten drauf ankommen, weil er weiß, daß sie das schwächste Glied im System sind. Es gibt keine funktionierenden Gewerkschaften, und kein ukrainischer Lohnabhängiger kann sich privat einen Anwalt leisten.

»Europa« erscheint unter solchen Rahmenbedingungen nicht nur als ein Land auskömmlicher Lebensmöglichkeiten für jeden. Wichtiger noch ist wahrscheinlich, daß die EU als ein stabiler Rechtsraum wahrgenommen wird, in dem vereinbarte Löhne in der Regel auch gezahlt werden und im Konfliktfall einklagbar sind. Ein Raum, in dem nicht für alles, von der Aufnahmeprüfung zur Universität über das Bett im Krankenhaus bis zur Baugenehmigung, Beziehungen genutzt oder Schmiergelder gezahlt werden müssen. Dieser Routinebetrieb der bürgerlichen Gesellschaft ist gemeint, wenn Demonstranten in Kiew mit EU-Fahne in der Hand von einem »normalen Land« träumen und sich erhoffen, dem durch den Anschluß an die Europäische Union näherzukommen. Hinter ihrem Protest steht die Verzweiflung darüber, daß die Unabhängigkeit der Ukraine für ihre Bürger in 22 Jahren wenig bis nichts gebracht hat. So war sie so auch nie gemeint, aber das sagt natürlich kein Politiker dazu.

Der Aufstand auf dem Kiewer Maidan ist so eine Erhebung enttäuschter Patrioten. Insofern ist es nicht erstaunlich, sondern konsequent, daß Faschisten wie die Partei »Swoboda« darin eine bedeutende Rolle spielen – die faschistische Demagogie artikuliert am schärfsten den »nationalen Verrat« und das Versagen herrschender Eliten. Der Aufstand ist allerdings auch doppelt illusorisch. Denn erstens läßt sich aus einer Reform des »Überbaus« keine kapitalistische Ökonomie nach dem Vorbild Westeuropas »herausdekretieren«. Illusorisch ist er deshalb zweitens auch in realpolitischer Hinsicht. Wer das politische System der gegenwärtigen Ukraine zerschlagen will, müßte die oligarchische Wirtschaft zerschlagen, die sich in den Jahren der Unabhängigkeit auf den Trümmern der Sowjetunion herausgebildet hat. Das dürfte dem Großteil der Bevölkerung, die zwar mehr schlecht als recht, aber von dieser Wirtschaft und keiner anderen lebt, übel bekommen. Es ist daher kein Wunder, daß die Aufrufe der Opposition zum Generalstreik bisher ins Leere gelaufen sind. Und ebensowenig, daß das letzte Wort der »Demokraten« von Kiew daher der Ruf nach Einmischung der EU zu ihren Gunsten ist.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 11. Dezember 2013


Zurück zur Ukraine-Seite

Zurück zur Homepage