Große Koalition in der Ukraine
Juschtschenko taktierte lange und riskierte eine neue Staatskrise
Von Manfred Schünemann *
Nach monatelangen Auseinandersetzungen um die künftige Machtverteilung in der Ukraine musste
Präsident Viktor Juschtschenko in der Nacht zum Donnerstag (3. August 2006) sein Einverständnis zur Nominierung
seines ehemaligen Rivalen Viktor Janukowitsch als Ministerpräsident geben.
Noch bis zum Ablauf der verfassungsmäßigen Frist hatte sich der Präsident seine Entscheidung
offengehalten und mit der Androhung der Parlamentsauflösung taktiert, um die Mehrheitsparteien –
Janukowitschs Partei der Regionen, Sozialisten und Kommunisten – zu größeren Zugeständnissen
zu bewegen. Dieses Taktieren trieb das Land erneut an den Rand einer Staatskrise. Julia
Timoschenko – schärfste Kontrahentin der neuen Mehrheit – sprach schon von einem »oligarchischkommunistischen
Staatsstreich«, die Kommunisten ihrerseits betonten, der Präsident treibe das
Land in die »territoriale Spaltung«. Vor diesem Hintergrund bezeichnete Juschtschenko den
Kompromiss als »einmalige Chance zur Verständigung zwischen den Landesteilen beiderseits des
Dnjepr«.
In der letzten Woche hatten sich Juschtschenko, die Fraktionschefs, der Parlamentspräsident und
der amtierende Regierungschef an einen »Nationalen Runden Tisch« gesetzt. Vor allem ging es
darum, einen Weg zu finden, die Juschtschenko-Partei »Unsere Ukraine« (oder Teile davon) in die
neue Mehrheit einzubinden und die Große Koalition mit dem ehemaligen Rivalen Janukowitsch ohne
zu großen Gesichtsverlust für den Präsidenten zusammenzimmern. Deshalb verließ der Block Julia
Timoschenkos den Tisch auch schon nach der ersten Verhandlungsrunde und versuchte bis zuletzt,
den Präsidenten zur Auflösung des Parlaments zu drängen.
Die Ergebnisse der Verhandlungen sind in einem Dokument mit der Bezeichnung »Universal der
nationalen Einheit« verankert, das die Grundlage für den Beitritt der Präsidentenpartei zur »Anti-
Krisenkoalition« bilden soll. (Der Begriff »Universal« knüpft bewusst an nationale Traditionen an.
Schon während der Kosakenherrschaft im 15. bis 18. Jahrhundert wurden wichtige Erlasse der
Hetmane so bezeichnet.) Noch ist allerdings unklar, welche Parteien letztendlich an der Koalition
beteiligt sein werden. Die KPU hat bereits erklärt, sie stimme dem »Universal« nicht oder nur in
Teilen zu.
Streitpunkte waren unter anderem der NATO-Beitritt, die Mitwirkung im Gemeinsamen
Wirtschaftsraum mit Russland, Kasachstan und Belarus und der Status der russischen Sprache.
Dazu wurden in der letzten Nachtsitzung Kompromissformulierungen gefunden, die in den
Koalitionsverhandlungen nach der Wahl Janukowitschs zum Ministerpräsidenten inhaltlich
ausgestaltet werden müssen. So setzten sich die Partei der Regionen und die Sozialisten mit ihrer
Forderung durch, über den NATO-Beitritt in einem Referendum zu entscheiden, doch Zeitpunkt und
Fragestellung sind noch offen. Andererseits glaubt der Präsident, sichergestellt zu haben, dass es
keine substanziellen Änderungen an seinem Kurs der Westorientierung gibt und die
Regierungsbeteiligung der Kommunisten – falls sie zustande kommt – rein formal bleibt. Wichtig für
Juschtschenko war auch die Wahrung seiner außenpolitischen Richtlinienkompetenz und die
Zusicherung, dass keine vorzeitige Präsidentenwahl angestrebt wird.
Mit dem »nationalen Kompromiss« könnte sich die politische Lage in der Ukraine zumindest
zeitweilig stabilisieren. Allerdings bleiben die Widersprüche zwischen den Parteien so groß, dass ein
neuerliches Zerbrechen der Parlamentsmehrheit nicht auszuschließen ist.
Janukowitschs Partei der Regionen stimmte dem Kompromisspapier vor allem mit Blick auf die
Position des Ministerpräsidenten zu, dessen Kompetenzen durch die geänderte Verfassung
wesentlich erweitert sind. Faktisch wird die Partei die tatsächliche Regierungspolitik – auch im
außen- und sicherheitspolitischen Bereich – immer stärker bestimmen. Ob das einen Kurswechsel
nach sich zieht, bleibt fraglich.
Der Block Julia Timoschenkos hat bereits seine prinzipielle Opposition angekündigt und bietet sich
als Sammelbecken aller Gegner des neuen Regierungsbündnisses – auch aus dem Juschtschenko-
Lager – an. Durch den Zustrom von Abtrünnigen aus der Präsidentenpartei und eine weitgehend
populistische Oppositionspolitik wird der Block an Einfluss gewinnen.
Juschtschenko muss mit der Wahl Janukowitschs zum Premier eine persönliche Niederlage und
eine weitere Schwächung seiner Position hinnehmen. Hatte er doch seinem Kontrahenten im
Präsidentenwahlkampf 2004 massive Wahlfälschungen vorgeworfen. Nun musste er zugeben, dass
»die Ukraine bei Wahlen von einer Bi-Polarität gekennzeichnet ist, die sich auch bei eventuellen
Neuwahlen bestätigen würde«.
* Aus: Neues Deutschland, 4. August 2006
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