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Der Machtwechsel und die Folgen für die weitere Entwicklung des Landes

Die Ukraine 10 Wochen nach der Wahlentscheidung

Im Folgenden dokumentieren wir ein Vortragskonzept von Manfred Schünemann: "Die Ukraine nach der Präsidentenwahl" für eine Veranstaltung des "Verbands für Internationale Politik und Völkerrecht e.V.", die am 23. Februar 2005 stattfand.
Der Text befindet sich auf der Homepage des Verbands:
www.vip-ev.de.
"Der im Februar 1990 (damals unter dem Namen "Berufsverband der DDR-Diplomaten") gegründete Verband für Internationale Politik und Völkerrecht ist ein gemeinnütziger eingetragener Verein, der sich mit politischen, wirtschaftlichen und völkerrechtlichen Aspekten der internationalen Entwicklung, aktuellen Fragen der deutschen und europäischen Außenpolitik und der Geschichte der Außenpolitik der DDR befaßt. Zu seinen Mitgliedern zählen vor allem außenpolitische Praktiker, Völkerrechtler und Wissenschaftler anderer mit den internationalen Beziehungen verbundener Fachrichtungen sowie Journalisten und Studenten." (Aus dem "Verbandsporträt".)



Die Ukraine nach der Präsidentenwahl

Von Manfred Schünemann

Zu den Wahlergebnissen

1. Wichtigstes Ergebnis der gesamten Präsidentschaftswahl ist, dass der Wechsel im Präsidentenamt und der Regierungswechsel letzten Endes auf demokratische Weise und entsprechend der geltenden Verfassung vollzogen wurde.
  • Unterschied zu Wahlen in anderen postsowjetischen Staaten, in denen immer stärker Scheinwahlen und "Erbfolgeregelungen" an die Stelle demokratischer Entscheidungen treten (Aserbaidshan; Zentralasien)
  • Zwar wurde der dritte Wahlgang erst durch Massenproteste erzwungen, aber die Entscheidungen darüber wurden vom Obersten Gericht, vom Parlament und auf der Grundlage der geltenden Verfassung getroffen. Zu den Massenprotesten war es vor allem aufgrund massiver Wahlfälschungen beim 2. Wahlgang gekommen. Lt. Gerichtsentscheid gab es in mehreren Stimmbezirken massive Wahlfälschungen zugunsten von Viktor Janukowitsch. Die Fälschungen erfolgten vor allem durch mehrfache Stimmabgaben von sog. Wahltouristen, manipulierte Wählerlisten und zusätzliche Stimmzettel für Janukowitsch. Bei der Wiederholung der Stichwahl am 26. Dez. wurden diese Manipulationen weitgehend ausgeschlossen. Alle Einsprüche von Janukowitsch gegen das Wahlergebnis vom 26. Dez. wurden vom Obersten Gericht als gegenstandslos abgewiesen. Die Einschätzungen des Obersten Gerichts decken sich weitgehend mit den Berichten der internationalen Wahlbeobachter.
2. Die Lösung der tiefen innenpolitischen Krise erfolgte in Verbindung mit der Durchsetzung der längst überfälligen Verfassungsreform
  • Weitgehende Einschränkung der Rechte des Präsidenten; Stärkung der Rolle des Parlaments; Konzentration der exekutiven Gewalt auf die Regierung.
  • Die Absicht der Juschtschenko-Opposition – im Bündnis mit einigen Gruppierungen des bisherigen Regierungslagers – den Inhalt der Verfassungsreform erst nach einem Machtwechsel zu definieren und dann in Kraft zu setzen, scheiterte vor allem an der konsequenten Haltung der Sozialistischen Partei, die ihre Unterstützung für Juschtschenko von der Inkraftsetzung der Verfassungsänderungen abhängig machte. Der neu gewählte Präsident ist nunmehr in das neue Verfassungsrecht eingebunden – wenn auch mit dem Kompromiß, dass wesentliche Bestimmungen erst im September in Kraft treten und für die Übergangszeit der Präsident alle "alten" Rechte behält.
3. Die Wahlentscheidungen aller drei Wahlgänge verdeutlichten erneut den tiefen politischen und kulturell-mentalen Riß, der sich durch die ukrainische Bevölkerung zieht. Durch die Manipulationen war zwar das Gesamtergebnis des zweiten Wahlganges verfälscht worden, aber das grundsätzliche Wahlverhalten blieb in allen drei Wahlgängen gleich.

In allen drei Wahlgängen siegte Juschtschenko in 17 der 27 Gebiete. Er gewann in allen west- und zentralukrainischen Gebieten, darunter in Kiew. Die besten Ergebnisse erzielte er stets in westukrainischen Gebieten:

GebietI. WG. in %II. WG in %III. WG in %
Ivano-Frankivsk89,0393,4495,72
Ternepil 87,5293,5396,03
Lviv 87,2591,7993,74


Seine schlechtesten Ergebnisse erzielte er dagegen in der Ostukraine:

Donezk 2,94 2,03 4,21
Lugansk 4,54 4,76 6,21
Sewastopol 5,97 7,61 7,96


Janukowitsch siegte in allen drei Wahlgängen in jeweils zehn Gebieten. Er gewann vor allem in den industriellen Ballungszentren der Ostukraine, auf der Krim und in der Südukraine. Seine besten Ergebnisse lagen in:

Donezk 86,74 96,2 93,54
Lugansk 80,0 92,73 91,74
Sewastopol 73,54 88,97 88,83


Die schlechtesten Ergebnisse erzielte Janukowitsch in westukrainischen Gebieten:

Ternepil 5,51 5,17 2,7
Ivano-Frankivsk 4,47 5,13 2,86
Lviv 5,81 6,63 4,72


Das unterschiedliche Wahlverhalten ist nicht neu. Bei allen bisherigen Wahlen waren die Unterschiede vorhanden – allerdings nicht so stark ausgeprägt. Die Ursachen für das unterschiedliche Wahlverhalten lassen sich nicht auf die ethnische Bevölkerungsstruktur reduzieren. Sie sollten bei aller Bedeutung nicht überbewertet werden. Insgesamt haben die Wahlen den gesamtgesellschaftlichen Konsens zur Unabhängigkeit bestätigt. Drohungen mit einer Abspaltung der ostukrainischen Gebiete haben keine realistische Grundlage und verfolgten eher wahltaktische Ziele.

4. Verloren hat Janukowitsch die Wahl vor allem, weil es ihm nicht gelang, in den zentralen Gebieten (in denen der Ausgang nicht so klar war wie in der West- oder Ostukraine) zusätzlich Wählerstimmen zu gewinnen. Im Gegenteil er verlor in diesen Wahlgebieten weitere Stimmen. So z.B.:

GebietI. WG III. WG
Shitomir 29,2 28,9
Winnitza 16,02 12,94
Rivne 16,08 12,29
Tscherkassy 17,92 17,35
Tschernigov 24,45 24,16


Juschtschenko dagegen erhielt gegenüber dem 1. Wahlgang ca. 4,4 Mio Stimmen mehr und gewann im Vergleich zum 1. Wahlgang in allen Gebieten dazu – auch in den ostukrainischen Gebieten. So z.B.:

Krim 12,79 15,41
Dnipropetrowsk 18,72 32,01
Charkiv 15,3526,37
Odessa 17,34 27,46


Zu den Hauptgründen für Wahlsieg Juschtschenkos

Für den Wahlsieg Juschtschenkos gibt es eine Reihe innerer und äußerer Faktoren, die miteinander eng verflochten sind. Entscheidend waren vor allem innere Faktoren:
  1. Hauptgrund war die allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Kutschma-Regime und den Ergebnissen der Gesellschaftstransformation seit Erlangung Eigenstaatlichkeit (Sozialabbau; soziale Differenzierung; Bereicherung der "Privatisierungsgewinner"; Herausbildung eines korrupten, bürokratischen Verwaltungssystems; Demokratiedefizite).
  2. Widersprüche zwischen unterschiedlichen Wirtschaftsgruppierungen (Clans). Interessengegensätze zwischen Groß- und Rüstungsindustrie im Osten des Landes auf der einen Seite und des sich entwickelnden Mittelstandes in der Westukraine sowie dem Kiewer Banken- und Verwaltungsmanagement auf der anderen Seite. Großindustrie vor allem an Beziehungen mit Russland interessiert, (z.T. russ. Kapital). Mittelstand hat vor allem Interesse an Kontakten zum Westen (Kapitalzufluß). Widersprüche gab es auch innerhalb des Regierungslagers. Halbherzige Unterstützung von Janukowitsch durch Kutschma-Administration (Sicherung der eigenen Positionen auch bei Regierungswechsel; Sorge vor "Übermacht" des Donezk-Clans)
  3. Formierung eines breiten Bündnisses aller regimekritischen Kräfte (Ausnahme: Kommunisten und linksradikale Gruppierungen) um die Wahlvereinigung der Juschtschenko-Anhänger "Unsere Ukraine". Hierzu gehörten vor allem der zentristische "Block Julia Timoschenko", die national-konservativen RUCH-Parteien, nationalistische Gruppierungen und Wählervereinigungen von "Kutschma-Gegenern". Vor dem zweiten und dritten Wahlgang war Juschtschenko zu großen Zugeständnissen an das linke Wählerpotential bereit (soziale Forderungen; Russisch; Verfassungsreform; Regierungsbeteiligung). SPU entschied sich deshalb für Unterstützung Juschtschenkos. Auch das intellektuelle Wählerpotential ist traditionell mehr national und nach Westen (Fördermittel!) orientiert und unterstützte deshalb das Juschtschenko-Lager.
  4. Ein weiterer Aspekt: Das linke Wählerpotential (Kommunisten, Sozialisten, Agrarpartei, linksradikale Gruppen) blieb vor und während der Wahlen zersplittert und verlor mit den Wahlen weiter an politischem Einfluss.
Besonders die Kommunisten mussten eine herbe Wahlniederlage hinnehmen: Im 1. Wahlgang erhielt der Kandidat der KPU, Petro Simonenko nur 4,97 % der Stimmen (noch weniger als Sozialistenführer O. Moroz = 5,81%). Noch bei den Präsidentenwahlen 1999 hatte Simonenko im ersten Wahlgang 22,24% und in der Stichwahl gegen Kutschma 37,77% erzielt (Moroz = 11,33%).

Hinzu kommen die traditionelle und allgemeinen Widersprüche in der ukrainischen Gesellschaft:
  • Mentale Unterschiede zwischen der West- und Ostukraine (Sprache; Kultur; Religion). Durch Fokussierung des Wahlkampfes auf "Schicksalsentscheidung" zwischen Westorientierung oder Anbindung an Russland erfolgte Polarisierung und Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten. Führte zwar zur Vertiefung der Gegensätze, aber Spaltungstendenzen sind nicht real.
  • Generationsprobleme; Wunsch nach "Zugehörigkeit" zu Europa; Rolle der Medien
Äußere Faktoren:

Die inneren Faktoren bildeten die Grundlage und den Nährboden für die massive Einflußnahme auf die Wahlentscheidung von außen. Beide politische Hauptlager erhielten massive finanzielle, materielle und personelle Unterstützung aus dem Ausland (Juschtschenko aus dem Westen / Janukowitsch von russischer Seite).
  • Wahlbeeinflussung von westlichen Seite war langfristig vorbereitet und beinhaltete einen Komplex von Aktivitäten auf staatlicher, wissenschaftlicher, medialer und zivilgesellschaftlicher Ebene:
    Massive Einflußnahme westlicher Regierungen und staatlicher Organisationen (Europarat; Europäische Kommission; NATO; US-Kongreß; Bundestag).
    Seit über zehn Jahren erfolgte der Aufbau eines Netzes von soziologischen Instituten, Stiftungen und anderen Einrichtungen. (Soros-Fondation!) zur Analyse der Stimmungen und Meinungen der ukrainischen Bevölkerung. Hinzu kam die Schaffung eigenständiger organisatorischer Strukturen zur Wahlbeobachtung. (Nachwahlbefragungspunkte).
  • Die Wahlunterstützung von der russischen Regierung war von dem Grundsatz getragen: Unterstützung des Kandidaten der Macht = sicherste Grundlage für Stabilität im Innern und Kontinuität in den Beziehungen zu Russland. Janukowitsch als Kandidat der herrschenden Gruppierungen bot nach russischer Einschätzung die bessere Sicherheit für die Interessen des russ. Kapitals und der russischen Führung. Vor allem versprach eine Wahl von Janukowitsch, dass für das russische Kapital die günstigen Bedingungen für seine Expansion in die ukrainische Wirtschaft nicht angetastet werden und die Ukraine auch weiterhin auf eine eigenständige Annäherung an EU und NATO verzichten würde. Die Haltung Russlands unterlag offensichtlichen Fehleinschätzungen der tatsächlichen Stimmungslage in der Ukraine (großrussisches Denken), stieß in der Westukraine und bei Intellektuellen auf Ablehnung. Nicht auszuschließen ist auch, dass die Wahlen in der Ukraine Teil der inneren Auseinandersetzungen in Russland waren. Es gibt z.B. Hinweise auf finanzielle Unterstützungen für Juschtschenko durch Beresowski. Ziel: Schwächung der Positionen Putins.
Zur Entwicklung seit dem Machtwechsel

1. Mit dem Amtsantritt von Viktor Juschtschenko am 23. Januar und der Wahl von Julia Timoschenko zur neuen Ministerpräsidentin am 4. Februar fand der seit Sommer letzten Jahres offen geführte Machtkampf einen vorläufigen Abschluß. Mit rasanter Geschwindigkeit und außerordentlicher Konsequenz vollzog sich seither eine Neuformierung der politischen Kräfte. Das zeigt sich bereits bei Bildung der neuen Regierung. Die bisherige "Parlamentsmehrheit" ist zerfallen und unterstützte fast geschlossen die Wahl J. Timoschenkos: 373 von 386 anwesenden Abgeordneten. Keine Gegenstimmen. Für J.T. stimmten u.a. alle SPU-Abgeordneten; 46 der 54 Abgeordneten der Janukowitsch-Partei; 18 der 24 Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei (v). Lediglich KP blieb Abstimmung fern und bleibt als einzige Partei in der Opposition. Längerfristig aber nicht auszuschließen, dass Widersprüche innerhalb Juschtschenko-Lager zunehmen. Vor allem die Positionen der SPU differieren in vielen Grundfragen von den Zielsetzungen Juschtschenkos und Timoschenkos (Haltung zum Besitz von Grund und Boden; Haltung zur NATO und zum Irak-Einsatz ukrainischer Truppenkontingente). Widersprüche zeigen sich auch bereits innerhalb der zentristischen Gruppierungen. Während sich Juschtschenko für ein pragmatisches Vorgehen bei der Überprüfung der Privatisierungen von Unternehmen ausspricht, treten Kräfte um Julia Timoschenko für eine generelle Überprüfung und ein radikales Vorgehen ein.

2. Der Wahlausgang und der vollzogene Machtwechsel werden zur Neuformierung der Parteienlandschaft führen. Dringend erforderlich ist besonders die rasche Umwandlung des Wahlblocks "Unsere Ukraine" in eine tatsächliche Partei. Nach dem neuen Wahlgesetz dürfen sich an der nächsten Parlamentswahl (März 2006) nur Parteien beteiligen, die länger als ein Jahr registriert sind. Der landesweite Aufbau neuer Parteistrukturen wird ein schwieriger Prozeß. Nicht zuletzt auf ihre organisatorische Stärke setzen die KPU und SPU ihre Hoffnungen bei der nächsten Parlamentswahl, zumal das neue Wahlgesetz nur noch eine 3%-Hürde vorsieht.

3. Die ersten Maßnahmen und Schritte der neuen Führung sind vor allem auf die Machtsicherung und Stabilisierung der innenpolitischen Situation gerichtet. Dabei ist ein recht geschicktes, pragmatisches Vorgehen festzustellen.

Erster Komplex betrifft die Umsetzung populärer Wahlversprechen. Dazu bereits acht Erlasse von Präsident Juschtschenko:
  • Anhebung des Existenzminimumsatzes (jetzt etwa 80 $) und gesetzliche Sicherung der Mindestlöhne auf diesem Niveau; Erhöhung des staatlichen Geburtengeldes auf etwa 1600 $ und Verbesserung anderer Sozialleistungssätze.
  • Erweiterung der Rechte der russischsprachigen Bevölkerung und Visaregelungen mit Russland und Weißrussland
  • die Durchführung einer weitreichenden Militärreform (Verkürzung des Wehrdienstes; Übergang zur Berufsarmee)
  • Kampf gegen die Korruption. Von der neuen Regierung wird die Überprüfung der Privatisierung von 30 Großunternehmen vorbereitet. Beschlossen wurde bereits, die "Privatisierung" von "Kriworoschstahl" zu annullieren (Schwiegersohn von Kutschma, Pintschuk, hatte die Firma erworben).
Unklar bleibt allerdings die Finanzierung der Sozialmaßnahmen. Angedacht ist, die Finanzierung durch den Neuverkauf von Betrieben sicher zu stellen, deren Privatisierung aufgehoben, bzw. rückgängig gemacht werden soll. Möglich wäre auch eine Neuverschuldung des Staates (ca. 5%). Unklar bleibt bis jetzt vor allem die Umsetzung des Hauptversprechens von Juschtschenko im Wahlkampf, 5 Mio. neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Arbeitslosenquote war in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen und lag 2003 bei ca. 12%. Erste Überlegungen zielen auf ein breites Fördersystem für mittlere und Kleinunternehmen. Vor allem soll die Kleinstdienstleister und Händler in steuerrechtliche Unternehmen umgewandelt werden, wodurch die Arbeitslosenzahl spürbar sinken würde.

Zweiter Maßnahmenkomplex betrifft die personelle und administrative Absicherung der neuen Machtverhältnisse, die natürlich als "Demokratisierung" der Machtstrukturen und "Säuberung" des Verwaltungsapparates von Korruption und Vetternwirtschaft bezeichnet werden. Hierzu gehören
  • Die Neubesetzung der Führungspositionen auf allen Verwaltungsebenen, die bis Ende des Monats abgeschlossen werden soll. Schon jetzt ist ein recht weitgehender Elitenwechsel zu erkennen. In neuer Regierung sind ausschließlich bisherige "Oppositionspolitiker" bzw. bei Kutschma in "Ungnade" gefallene Politiker, wie Vizepremier Kinach und AM Tarassjuk. Eindeutig ist die Westorientierung der gesamten neuen Führung. (z. B. war Tarassjuk von Kutschma wegen seiner zu offenen pro-westlichen Position als AM entlassen worden).
  • Auswechselung der Gebietsgouverneure. Die Neuernennungen nimmt der Präsident vor. Bis auf wenige Ausnahmen (Kiew) handelt es sich um bisherige Oppositionspolitiker und Gefolgsleute Juschtschenkos.
  • Weitere Maßnahmen betreffen die Verwaltungsstruktur. So wurde z.B. Präsidialadministration aufgelöst und "Sekretariat" des Präsidenten geschaffen – entspricht bereits der Verfassungsänderung ab Sep. d.J. Wichtigstes Koordinierungszentrum wird der Nationale Sicherheitsrat. Angestrebt wird auch rasche Verwirklichung einer Verwaltungs- und Gebietsreform.
Unklar ist im Moment noch das Vorgehen gegen Kutschma (Gongadse-Affäre) und gegen Verantwortliche der Wahlfälschungen. (JU eher für "maßvolles" Vorgehen; JT / SPU / Nationalisten – stärker für "hartes" Vorgehen).

Drittes Aktionsfeld der neuen Führung ist die Außenpolitik. Auch hier ist ein vorsichtiges und pragmatisches Vorgehen kennzeichnend.
  • Erklärtes Ziel ist eine klare Beitrittsperspektive zur EU. Die These der EU: "Entwicklung einer gesonderten Partnerschaft, aber keine Mitgliedschaft" wird von ukrainischer Seite abgelehnt. Das ukrainische Außenministerium erklärte im Zusammenhang mit der Implementierung des Aktionsplanes Ukraine – EU erneut: "Die Zusammenarbeit im Rahmen des Aktionsplanes wird nicht als Alternative für die Möglichkeit des Beitritts betrachtet. Der Aktionsplan ist ein wichtiges Instrument für eine immer engere Zusammenarbeit." Außenminister Tarassjuk geht vom Beginn offizieller Beitrittsverhandlungen nicht später als 2007/2008 aus. Bis dahin sind alle bisherigen Hindernisse beseitigt: Die Ukraine wird noch 2005 den Status einer Marktwirtschaft erhalten und die Beitrittsverhandlungen zur WTO im wesentlichen abschließen. Auch die ungeklärten Fragen des Visa-Regimes könnten umgehend geklärt werden. Bei einer weiteren Verzögerung klarer EU-Entscheidungen ist nicht auszuschließen, dass die Ukraine einseitig einen Aufnahmeantrag stellt. Bezüglich der NATO strebt die Ukraine ein schrittweises Vorgehen an. Zunächst sollen die Pläne der Zusammenarbeit im Rahmen der speziellen Partnerschaft Ukraine – NATO präzisiert und erweitert werden. Als nächster Schritt wird dann die Zuerkennung des Status eines Beitrittskandidaten angestrebt. Am Endes dieses Prozesses soll die Ukraine dann Vollmitglied werden. Modifiziert wurde bereits auch die Absicht, sofort die ukrainischen Truppen aus dem Irak zurück zu ziehen. Juschtschenko hat dazu erklärt, dass nach den Wahlen im Irak eine veränderte Situation sei und ein Rückzug nur im Kontext mit den anderen Koalitionsstreitkräften, insbesondere mit Polen, erfolgen kann.
  • Der zweite außenpolitische Schwerpunkt ist die Neuordnung des Verhältnisses zu Russland und zu den anderen GUS-Staaten. Neben sichtlichem Bemühen um ein gutes Verhältnis zu Russland erfolgt die Betonung der Eigenständigkeit der außenpolitischen und wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Von ukrainischer Seite wird eine Überprüfung der Verträge zum Gemeinsamen Wirtschaftsraum mit Russland, Weißrussland, Kasachstan erfolgen. Hauptkriterien dabei sind: Nutzen für die Ukraine; keine Behinderung des Beitritts zur WTO und zur EU. Es ist zu erwarten, dass beim vorgesehenen Besuch von Putin in Kiew (Dritte Märzdekade) eine Bilanz der Beziehungen Russland – Ukraine gezogen wird und die künftigen Prioritäten festgelegt werden. Keinerlei außenpolitische Aktivitäten (und Äußerungen) gab es bis jetzt zur Zusammenarbeit innerhalb der GUS und im Rahmen der GUUAM. Juschtschenko hat aber betont, dass es künftig keine "Politik nach zwei Richtungen" mehr geben werde, sondern die Ukraine nur noch die Politik der europäischen Orientierung verfolge.
Zusammenfassung

1. Der Wahlsieg Juschtschenkos markiert eine Zäsur in der Entwicklung der Ukraine seit Erlangung der Eigenstaatlichkeit. Er führte zur Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Gruppierungen, die für eine Orientierung nach Westen eintreten. Zu erwarten ist eine noch größere Öffnung des ukrainischen Marktes für Kapital, Waren und Knowhow aus dem Westen, bei gleichzeitiger Einschränkung der Spielräume für russisches Kapital. Da Westeuropa auch künftig kaum bereit und in der Lage ist, die Ukraine in die EU aufzunehmen, wird es zum Ausbau der speziellen Partnerschaft EU - Ukraine kommen. Sicherheitspolitisch werden die USA auf eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO drängen und die Wege dazu ebenen.

2. Der Wahlausgang und der vollzogene Machtwechsel in der Ukraine haben weitreichende Folgen für das Beziehungsgefüge in der gesamten Region. Russland hat mit Wahlausgang in der Ukraine Niederlage von strategischen Ausmaßen erlitten. Die gesamte Politik Russlands gegenüber dem postsowjetischen Raum (GUS; GWR; Bündnis mit WRU) muß überdacht werden. Eine weitere Einschränkung der Handlungsspielräume Russlands im postsowjetischen Raum sowie Rückwirkungen auf das Verhältnis zu den USA, zur EU und NATO sind zu erwarten.

3. Eine gewisse innenpolitische Instabilität wird zumindest bis zu den Parlamentswahlen erhalten bleiben. Enttäuschungen bei den Wählern sind vorprogrammiert, aber auch die "Demokratie-Erfahrungen" während der Massenproteste bleiben wach und könnten für die künftige Entwicklung eine Rolle spielen. Quelle: www.vip-ev.de


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