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Endrunde im ukrainischen Wahlkampf

Janukowitsch und Timoschenko rangeln um die Stimmen der Ausgeschiedenen

Von Manfred Schünemann *

Kaum waren vor einer Woche die Stimmen des ersten Wahlgangs der Präsidentenwahlen in der Ukraine ausgezählt, rüsteten sich die Lager der beiden Erstplatzierten - Viktor Janukowitsch und Julia Timoschenko - für die Stichwahl am 7. Februar.

Nicht nur die eigenen Anhänger müssen die beiden Kontrahenten noch einmal mobilisieren. Vor allem geht es ihnen um die Stimmen der im ersten Wahlgang ausgeschiedenen Kandidaten. Um ihren Rückstand gegenüber Viktor Janukowitsch - etwa 2,5 Millionen Wählerstimmen - aufzuholen, benötigt Julia Timoschenko die Unterstützung jenes »orangen« Wählerpotenzials, das sich diesmal für die Bewerber Sergej Tigipko (13 Prozent), Arseni Jazenjuk (knapp 7 Prozent) und Viktor Juschtschenko (etwa 5,5 Prozent) entschieden hatte. Die Chancen für die charismatische, politisch jedoch schwer berechenbare Ministerpräsidentin stehen durchaus nicht schlecht. Ein großer Teil der Wähler vor allem im Westen und im Zentrum der Ukraine dürften sich trotz aller Vorbehalte gegenüber Timoschenko eher für sie als für den politisch und kulturell in der Ostukraine verankerten Viktor Janukowitsch entscheiden. Überdies lockt Timoschenko ihre ausgeschiedenen Rivalen Tigipko und Jazenjuk für den Fall ihres Wahlsiegs mit lukrativen Posten. Die Kiewer Tageszeitung »Delo« berichtete, die »Gasprinzessin« habe Sergej Tigipko schon am Wahlabend Verhandlungen über eine politische Zusammenarbeit vorgeschlagen und ihm das Amt des Ministerpräsidenten und die Hälfte der Ministerposten für seine Anhänger angeboten. Tigipko erklärte zwar öffentlich, er unterstütze in der Stichwahl weder Timoschenko noch Janukowitsch, intern jedoch - so die Zeitung - überdenke er »alle möglichen Varianten«. Schon vor seinem beachtlichen Wahlergebnis war der ehemalige Vizepremier (1997-2001) und Nationalbankpräsident (2002 bis 2005), einer der reichsten Männer der Ukraine, als aufsteigender Stern am Politikerhimmel gesehen worden. Auch im Falle eines Wahlsieges von Janukowitsch könnte er Ministerpräsident werden.

Erstrundensieger Janukowitsch benötigt für einen Erfolg ebenfalls die direkte oder indirekte Unterstützung der unterlegenen Kandidaten und ihrer Wähler, darunter möglichst vieler aus der Westukraine. Gleich nach dem Wahlsonntag erklärte er in einem Interview mit Journalisten aus dem westukrainischen Tschernowzy, er sei bereit, mit allen Politikern zusammenzuarbeiten, »die eine starke, unabhängige Ukraine« schaffen wollen. Und nach einem Kirchgang anlässlich des orthodoxen Tauffestes betonte er: »Ich möchte, dass alle - gleich ob sie mir oder anderen Kandidaten ihre Stimme gegeben haben - wissen: Ich werde die Ukraine in europäische Richtung führen. Wir kommen aber nicht als Bettler nach Europa, sondern als starkes, unabhängiges Land, in dem die europäischen Standards das Leben der Menschen bestimmen.« Zugleich sprach er sich für eine ausgewogene, den nationalen Interessen dienende Politik aus. Als Präsident werde er für einen »Neubeginn und die Erneuerung in den gleichberechtigten, partnerschaftlichen Beziehungen« zu Russland einsetzen.

Dennoch wird es für Janukowitsch schwer werden, in der Stichwahl einen substanziellen Zuwachs an Wählerstimmen zu bekommen. Das linke Wählerpotenzial, das bei früheren Wahlentscheidungen als seine Reserve galt, ist stark geschrumpft. Kommunisten und Sozialisten errangen zusammen nur knapp eine Million Stimmen. 1999 war der KPU-Vorsitzende Petro Simonenko noch in die Stichwahl gegen Leonid Kutschma gelangt und hatte offiziell etwa zehn Millionen Wählerstimmen errungen. (Er selbst ist davon überzeugt, dass er eigentlich gewonnen hatte und nur durch Manipulationen um den Sieg gebracht wurde.) Hilfreich für Janukowitsch könnte es jedoch sein, wenn Tigipko, Jazenjuk und Juschtschenko dabei blieben, ihre Anhänger direkt oder indirekt zur Wahlenthaltung aufzurufen.

Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes werden durch die Präsidentenwahl nicht gelöst. Das politische Kräfteverhältnis und die daraus resultierende Instabilität bleiben unverändert bestehen, die Wirtschaft steckt nach wie vor in der Krise - mit allen Folgen für die Masse der Bevölkerung. Keiner der beiden Kandidaten hat bisher konstruktive Konzepte für die Lösung der dringlichen Aufgaben erkennen lassen. Schon wird spekuliert, dass das Volk im Falle eines Timoschenko-Wahlsiegs von Julia Timoschenko schon im Mai wieder an die Urnen gerufen wird, um eine neue Werchowna Rada zu wählen. Dabei hat das jüngste Ergebnis gerade mit aller Deutlichkeit beiwiesen, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen den politischen Lagern durch Wahlen kaum verändert. Stabilere Verhältnisse ließen sich allenfalls durch Kompromisse zwischen den Parteien und die Einbindung möglichst vieler politischer Kräfte in die Verantwortung erreichen. Fraglich bleibt jedoch, ob beide Seiten dazu bereit sind. Schon im vorigen Jahr hatten Janukowitsch und Timoschenko notwendige Verfassungsänderungen ausgehandelt. Sie scheiterten aber an Machtquerelen. So ist auch jetzt zu befürchten, dass der oder die Unterlegene bei einem knappen Wahlausgang nichts unversucht lassen wird, die Rechtmäßigkeit des Ergebnisses anzufechten, um den Amtsantritt des neuen Präsidenten mit legitimen (und illegitimen) Mitteln zu verzögern. Zumindest Julia Timoschenko hat ein solches Vorgehen bereits angekündigt. Das dadurch entstehende Machtvakuum würde die Staatskrise noch verschärfen und dringende wirtschaftliche und politische Entscheidungen verzögern.

Im ersten Wahlgang der ukrainischen Präsidentenwahlen erhielten Viktor Janukowitsch 35,3 und Julia Timoschenko 25,0 Prozent der Stimmen. Die Karte macht deutlich, dass Janukowitschs Hochburgen nach wie vor im Osten und Süden liegen, Timoschenko dagegen im Westen und im Zentrum besser abgeschnitten hat. Allerdings sind die Ergebnisse sehr unterschiedlich. Im Gebiet Donezk etwa lag Janukowitsch mit 76 Prozent deutlich vor Timoschenko (4,3 Prozent). In Transkarpatien (Ushgorod) dagegen lautet das Verhältnis lediglich 29,6 zu 26,2 Prozent zugunsten des Oppositionsführers. Timoschenko erreichte ihr bestes Ergebnis (53,8 Prozent) im Gebiet Luzk im äußersten Nordwesten der Ukraine. Zwischen 20 Prozent (Donezk) und 60 Prozent (Lwow) der Wähler gaben ihre Stimmen Kandidaten, die nicht die Stichwahl erreicht haben.

* Aus: Neues Deutschland, 25. Januar 2010


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