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Die Ukraine nach der Wahl

Die Wähler habe es so gewollt: Viktor Juschtschenko ist Präsident

Im Folgenden dokumentieren wir zur Präsidentenwahl in der Ukraine einen Artikel aus dem "Neuen Deutschland" (Autor: Manfred Schünemann) sowie einen Kommentar von Karl Grobe aus der "Frankfurter Rundschau".

Nach der Wahl - vor der Enttäuschung?

Die Ukraine steht am Beginn einer neuen Entwicklungsetappe

Von Manfred Schünemann


Viktor Juschtschenko ist von einer Mehrheit des ukrainischen Volkes zum Präsidenten gewählt worden. Diese Mehrheit hatte sich nicht mit den manipulierten Ergebnissen der Stichwahl vom 21. November zufrieden gegeben und durch Massenproteste (mit finanzieller und organisatorischer Unterstützung des Westens) eine Wahlwiederholung erzwungen.

Die noch junge Demokratie in der Ukraine hat also einen Sieg errungen. Auch die hohe Wahlbeteiligung in allen drei Runden zeugt vom Willen der großen Bevölkerungsmehrheit, die Entwicklung des Landes nicht einzelnen Parteien und Klientelgruppierungen zu überlassen, sondern vom Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch zu machen. Mit dieser Erfahrung wird jede ukrainische Regierung künftig rechnen müssen.

Es wäre ein weiterer Gewinn für die Demokratie, wenn Viktor Janukowitsch den Sieg Juschtschenkos akzeptieren und seine Ankündigung, nach einer Niederlage die Führung der Opposition zu übernehmen, wahr machen würde.

Auch in diesem dritten Wahlgang wurden die regionalen Unterschiede im Wahlverhalten deutlich: Wieder erhielt Janukowitsch in 10 der 27 Wahlbezirke, vor allem in den östlichen und südlichen Industrieregionen, eine Mehrheit (Donezk 93, Lugansk 91, Charkiw 68 Prozent). Juschtschenko siegte dagegen erneut in den westlichen und zentralen Gebieten (Lwiw 93, Iwano-Frankiwsk 95, Kiew 78 Prozent). Abermals zeigt sich der tiefe politische und mentale Riss in der ukrainischen Gesellschaft, der zwar nicht zur Abspaltung des Ostens führen wird, aber die Handlungsfähigkeit der neuen Führung erheblich beeinträchtigen kann. Das unterschiedliche Wählerverhalten zu akzeptieren und einen neuen nationalen Konsens herbeizuführen, ist die dringlichste innenpolitische Aufgabe des neuen Präsidenten. Seine Versprechen, keine russischsprachige Schule werde geschlossen und jeder in Ukraine könne so sprechen, wie er wolle, dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

Andererseits ist das Lager Janukowitschs aufgefordert, in der Opposition Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu zeigen. Seine Wahlniederlage resultiert vor allem aus der Unzufriedenheit einer Mehrheit mit der Politik der bisherigen Führung, die zu enormer sozialer Ungerechtigkeit und allgegenwärtiger Korruption geführt hat. Die Präsidentenwahl hat also große Erwartungen geweckt, die in überschaubarer Zeit kaum zu erfüllen sein werden. Neue Enttäuschungen sind programmiert, die sich schon bei den Parlamentswahlen im März 2006 niederschlagen können.

Allein durch den Wahlsieg Juschtschenkos ändern sich die tatsächlichen Machtverhältnisse natürlich nicht. Seit Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit haben Wirtschaftsoligarchen und ihre politischen Clans einen (fast) unkontrollierten Zugriff auf die Naturreichtümer und das Wirtschaftspotenzial. Sie besetzen mit ihren Gewährsleuten alle Schlüsselpositionen und haben in den letzten Wochen alles getan, um sie sich unter allen Umständen auf möglichst "legale" Weise zu sichern, damit ein Regierungswechsel nicht zum Machtwechsel wird. Ob ein Präsident Juschtschenko diese Machtverhältnisse tatsächlich ändern kann (und will!), bleibt abzuwarten.

Nach seinem Amtsantritt im Januar hat Juschtschenko noch ein Jahr Zeit, um die jetzige Machtfülle des Präsidenten zu nutzen und seine wichtigsten Reformvorhaben auf den Weg zu bringen. Dazu gehören ein Investitionsprogramm zur Schaffung von fünf Millionen neuer Arbeitsplätze; die finanzielle Sicherung der Sozialsysteme durch Veränderungen in der Steuerpolitik; der entschiedene Kampf gegen die Korruption durch eine Einschränkung der Bürokratie und die Durchsetzung einer unabhängigen Gerichtsbarkeit. Von der Verwirklichung dieser Wahlversprechen wird es abhängen, ob die Wähler wieder Vertrauen in das politische System und die ukrainische Staatlichkeit insgesamt gewinnen. Für die Durchsetzung dieser Reformen braucht der Juschtschenko-Block jedoch parlamentarische Mehrheiten, über die er nur verfügt, wenn die bisherigen Oppositionsfraktionen (Unsere Ukraine, Block Julia Timoschenko, Sozialisten, Kommunisten) gemeinsam stimmen. Kommunisten und Sozialisten werden ihr Verhalten jedoch auch davon abhängig machen, ob und wie sie in die neue Regierung eingebunden werden und ihre politischen Ziele verwirklichen können.

Die Ukraine bleibt wirtschaftlich und politisch auch künftig in einer Zwischenlage zwischen Russland und dem Westen. Jede Realpolitik muss diesen Bedingungen, die sich auch in der Befindlichkeit der eigenen Bevölkerung widerspiegeln, Rechnung tragen. Kiew muss also eine ausgewogene Politik gegenüber Russland und den westlichen Staaten betreiben. Die Balancepolitik, die der bisherige Präsident Leonid Kutschma versucht hat, kann dafür durchaus Grundlage sein. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass mit der Wahl Juschtschenkos eine deutlichere Westorientierung eingeleitet wird. Zur Aufnahme der Ukraine in die EU sind die Staaten der Union jedoch nach wie vor nicht bereit, eine Integration in die NATO könnte bis zum Ende dieses Jahrzehnts dagegen Realität werden.

Russland, das mit den ukrainischen Wahlen eine Niederlage von strategischem Ausmaß hinnehmen muss, wird sich auf diese Entwicklung einstellen müssen. Auf dem Prüfstand stehen sowohl die Integrationsstrategie im Rahmen der GUS und des Gemeinsamen Wirtschaftsraums als auch Moskaus Politik gegenüber EU und NATO.

Aus: Neues Deutschland, 28. Dezember 2004

Mündige Ukrainer

VON KARL GROBE

Ihre Landesfarben, Gelb und Blau, wird die Ukraine nach dem Wahlsieg des Viktor Juschtschenko nicht ändern. Für Russlands Führung wird der Fünfzig-Millionen-Staat, einer der größten des Kontinents, nahes Ausland bleiben - eigentlich also kein richtiges Ausland. Für die Westeuropäer wird es ein randständiges Stück Europa bleiben - eigentlich also kein richtiges. Die Interessen des großen Nachbarn im Norden und Osten bleiben, was und wie sie waren: ökonomisch, politisch und historisch definiert und insgesamt sehr intensiv. Im Westen dürfte das Interesse abflauen, da nun der große Umschwung vollbracht ist. Die innere Dynamik, der demokratische Prozess, bleibt folglich eine innerukrainische Angelegenheit unter der gelb-blauen Flagge.

Aber es ist mehr geschehen. Was sich zwischen dem fälschungsüberschatteten zweiten und dem sauberer verlaufenen dritten Wahlgang verändert hat, gehört in eine andere Farbenlehre. Eine Kraft ist aufgetreten, die in der Nach-Wende-Zeit so nicht vorgesehen war. Es ist die des Volkes. Ihre Symbolfarbe ist Orange. Sie wird nicht so rasch verblassen. Vor allem dann nicht, wenn das selbstbewusste Volk ihre Umwidmung zur Parteifarbe des Juschtschenko-Timoschenko-Blocks verhindern kann.

Der siegreiche Viktor und die kämpferische Julia gehören ebenso zur neuen Oberschicht wie der andere Viktor, der Wahlverlierer Janukowitsch, wenngleich, was nicht unwichtig ist, zu durchaus verschiedenartigen Flügeln. Die bewussten Wähler haben sich aber nicht bloß zwischen zwei Fraktionen einer realen Oligarchie entschieden. Sie haben den Siegern einen demokratischen Auftrag erteilt, und die Sieger tun gut daran, diesen bei allen unausweichlichen Bemühungen um Kompromiss und nationale Versöhnung nicht zu vergessen.

Das ist eine neue Qualität in der zweitgrößten Nachfolge-Republik der Sowjetunion, eine Qualität, die anderes bedeutet als die Putinisierung Russlands. Von Moskau geht das technokratische Vorhaben aus, Parteien, Parlamente, Regionen, Wirtschaft und Rechtswesen nach dem Bilde des Präsidenten zu formen. Vielfarbig ist noch die Landesflagge; die Gesellschaft wird einfarbig koloriert. In Kiew, nicht nur dort, stellt sich bunte politische - zivilgesellschaftliche - Vielfalt ein. Nicht von allein, sondern durch das Engagement der Bürger.

Dies erschreckt manche Techniker der Macht an der Moskwa. Mit dem miserablen Zustand einer kaum mehr wahrnehmbaren Opposition können sie gut leben. Dass sich Gegenkräfte herausbilden können, ohne dass "die Hand des Westens" an lenkenden Drähten ziehe, geht über ihr Vorstelllungsvermögen. Manche Kommentare, in denen vorauseilend eine Unterwanderung durch feindliche Ausländer im nächsten Wahljahr - erst 2008 - unterstellt wird, wurden auf diesem Hintergrund verfasst. Ernster ist, wie sehr Putins Berater sich auf Janukowitsch, den Berechenbaren, festgelegt haben, als da nichts mehr festzulegen war. Der Gesichtsverlust verschärft die Linie.

Die neue ukrainische Staatsführung kann sich dem nicht entziehen. Sie muss aufs Hochseil, muss balancieren. Das russisch-ukrainische Verhältnis wird ein besonderes bleiben; schon weil wegen historischer Entwicklungen der ukrainische Osten Russisch nicht nur spricht, sondern sich auch russisch orientiert. Das Sprachenproblem spiegelt tiefer reichende Spaltungen. Dass die beiden Kandidaten in öffentlichen Debatten sich beider Idiome bedienten (Juschtschenko argumentierte ukrainisch, Janukowitsch russisch), hinderte aber das gegenseitige Verstehen nicht. Nicht die Sprache, sondern historische Gegebenheiten und wirtschaftliche Interessen verschiedener oligarchisch verfasster Gruppen unterscheiden die Landeshälften voneinander.

Dies ist wahrlich kein unheilbarer Bruch. Das angebliche Druckmittel, das Donez-Industrierevier von der Ukraine abzuspalten, existiert vorderhand nur in der Fantasie radikaler Demagogen. Falls sie aber wider Erwarten obsiegen sollten, hätte das Rückwirkungen nicht nur aufs Land, sondern auf die internationale Politik: Konfrontation üblerer Art wäre die Folge. Die Einsichtigeren in den verschiedenen Regionen wissen das ebenso gut wie jene demokratischen Kräfte, die nun gerade nicht in radikale Funktionärszirkel eingeschmiedet sind, und werden deshalb zum Kompromiss finden.

Das Volk hat sich mündig erklärt, die Farbe Orange ist das Symbol; gerade in Kiew, der Synthese aller ukrainischen Strömungen und Bewegungen. Was dort gewaltlos geschah, gibt Hoffnung. Sie in Realität umzusetzen, ist jetzt die Aufgabe Juschtschenkos und seiner Mitsieger.

Aus: Frankfurter Rundschau, 28. Dezember 2004


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