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In der Ukraine herrscht schon Vorwahlkampf

Strategische Partnerschaften auf Sparflamme

Von Manfred Schünemann *

Zum wiederholten Male wurde ein zweiter Prozess gegen die ehemalige ukrainische Regierungschefin Julia Timoschenko am Montag vertagt - diesmal auf den 31. Juli. Timoschenko, im ersten Prozess wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt, wird nach wie vor in einem Charkower Krakenhaus wegen eines Bandscheibenvorfalls behandelt.

Nach den lebensfrohen Wochen der Fußball-Europameisterschaft ist in der Ukraine der politische Alltag wieder eingekehrt. Zwar hat sich die Werchowna Rada, das Parlament, in die Sommerpause verabschiedet, aber der Kampf zwischen Regierungslager und Opposition dauert unvermindert an. Das Schicksal Julia Timoschenkos spielt dabei - anders als im westlichen Ausland - nur eine untergeordnete Rolle.

Der Opposition geht es vielmehr darum, Voraussetzungen für einen Erfolg bei den Parlamentswahlen Ende Oktober zu schaffen. Erste Schritte wurden bereits getan: Die Timoschenko-Partei »Batkivtschina« (Vaterland) und die liberaldemokratische Partei »Smin« (Wandel) des früheren Parlamentspräsidenten Arseni Jazenjuk wollen gemeinsam antreten. Was ihnen noch fehlt, ist ein attraktiver Spitzenkandidat, denn Jazenjuk ist bisher blass geblieben und mit einer Rückkehr Timoschenkos ist vor den Wahlen kaum zu rechnen.

Auch das national-konservative Lager um den früheren Präsidenten Viktor Juschtschenko müht sich, seine Chancen durch einen Zusammenschluss rechter Parteien zu verbessern.

Das Regierungslager konzentriert sich unterdessen darauf, der schwindenden Zustimmung in Meinungsumfragen zu begegnen. Anfang Mai lag das Oppositionsbündnis Timoschenko/Jazenjuk erstmals vor der regierenden Partei der Regionen. In seinem Jahresbericht vor der Werchowna Rada zog Präsident Viktor Janukowitsch denn auch eine betont gute Bilanz der Regierungsarbeit. Hervorgehoben wurden unter anderem der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts um 5,2 Prozent im vergangenen Jahr, das Wachstum in Industrie (7,6 Prozent) und Landwirtschaft (17,5 Prozent). Fortbestehende Defizite - mangelnde Effizienz, technologischer Rückstand, Abhängigkeit von Rohstoff- und Energiepreisen - und die Abschwächung der Entwicklungsdaten im laufenden Jahr wurden dagegen kaum analysiert. Nach jüngsten Berechnungen wird die Wirtschaft 2012 stagnieren, in der Industrieproduktion kann es sogar zu einem leichten Rückgang kommen. Die angespannte Lage des Staatshaushalts wird sich dadurch weiter verschärfen, Kredite lassen sich angesichts der internationalen Finanzkrise jedoch immer schwieriger beschaffen.

Die Abhängigkeit der ukrainischen Wirtschaft von Erdgaslieferungen aus Russland, die etwa 90 Prozent des Bedarfs decken, versucht man durch Hinweise auf die Erkundung eigener Vorkommen und eine mögliche chinesische Beteiligung an deren Erschließung zu relativieren. Sicherlich soll damit in erster Linie die eigene Position in den komplizierten Verhandlungen zur Änderung der Gasverträge mit Russland gestärkt werden. Doch die wirtschaftliche Abhängigkeit der Ukraine von Russland kann kurzfristig nicht überwunden werden. Es bedarf also dringend langfristiger Vereinbarungen.

Diesbezüglich hat allerdings das jüngste Treffen beider Präsidenten in Jalta kaum Fortschritte gebracht. Zwar wurden eine wortreiche »Deklaration über den Inhalt der strategischen Partnerschaft zwischen der Ukraine und Russland« und eine Vereinbarung über die Grenzziehung in der Meerenge von Kertsch und im Asowschen Meer unterzeichnet, doch was die wirtschaftliche Zusammenarbeit betrifft, wiederholten beide Seiten ihre bisherigen Positionen. Janukowitsch bekräftigte den Kurs der »europäischen Orientierung« und die abwartende Haltung zu russischen Integrationsbestrebungen für den postsowjetischen Raum. Wladimir Putin seinerseits, der die Gastgeber schon durch verspätete Anreise und einen ungeplanten Zwischenstopp bei einem russischen Biker-Club verärgert hatte, wiederholte die russischen Vorstellungen von einer engen Kooperation in allen Wirtschaftszweigen, langfristigen Gasverträgen und möglichen Preisvergünstigungen. Nachdrücklich warb er um eine Beteiligung der Ukraine an der Zollunion Russland-Kasachstan-Belarus und am Euroasiatischen Wirtschaftsraum. Zur Frage, warum Russland beispielsweise Deutschland günstigere Gaspreise gewähre als der Ukraine, sagte Putin auf der Pressekonferenz, dass es »natürlich gewisse Vorzugspreise« gäbe. Schließlich habe man mit Deutschland auch ein gemeinsames Transportsystem (die Ostsee-Pipeline) geschaffen, das jeder Seite zur Hälfte gehöre. Das sei »ein anderes Modell der wirtschaftlichen Zusammenarbeit«. Kiew besteht darauf, dass die Transitleitungen allein ukrainisches Eigentum bleiben.

Das Treffen in Jalta ließ jedenfalls erkennen, dass sich die Ukraine vor den Parlamentswahlen keinesfalls für oder gegen einen Beitritt zur Zollunion entscheiden wird. Und die russische Führung scheint bereit zu sein, die politische Entwicklung in der Ukraine abzuwarten. In Kiew hofft man, dass die EU nach den Wahlen ihre Blockadehaltung gegenüber der ukrainischen Führung aufgibt und das fertige Assoziierungsabkommen in Kraft setzt. So könnte die Ukraine gestärkt in die Verhandlungen mit Russland gehen, das jetzt überdies an die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) gebunden ist.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 24. Juli 2012


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