Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"In der Ukraine nimmt man 'Julia' nicht mehr ernst"

Keine Resonanz: Inhaftierte frühere Ministerpräsidentin bricht neuerlichen Hungerstreik ab. Ein Gespräch mit Frank Schumann *




Die inhaftierte ukrainische Politikerin Julia Timoschenko hat am Freitag nach Angaben ihrer deutschen Ärzte ihren Hungerstreik beendet. Die frühere Ministerpräsidentin und Magnatin eines Energiekonzerns hat nach der Parlamentswahl am 28. Oktober das Essen verweigert, um gegen Wahlmanipulationen zu protestieren. Hierzulande hat Timoschenko dieses Mal kaum Aufmerksamkeit erregt, wie war das in der Ukraine?

Nicht anders. Das schwankt zwischen Desinteresse – die meisten Ukrainer haben eigene existentielle Sorgen – und Kopfschütteln. Man nimmt »Julia« nicht mehr ernst. Wenn sie mit ihren Absatzschuhen, im Rollstuhl sitzend, gegen die Krankenhaustür schlägt, was fatal an Chruschtschows Schuhplattler 1960 in der UNO erinnerte; wenn sie hungerstreikt, mal, um vom Krankenhaus ins Gefängnis, mal, um vom Gefängnis ins Krankenhaus verlegt zu werden, oder, wie jetzt, um gegen den Ausgang der Wahlen zu protestieren; oder wenn sie sich für 40 Stunden flach auf den Boden legt – das wird als unseriös und infantil empfunden. Sie verhält sich wie ein Kind, das um Aufmerksamkeit kämpft. Mit ihren PR-Aktionen hat sie ihre Glaubwürdigkeit selbst bei vielen ihrer Anhänger verspielt. Timoschenko kennt in jeder Hinsicht kein Maß: weder beim Geldraffen noch bei ihrer öffentlichen Darstellung.

Timoschenkos Hungerstreik-Aus verkündete laut FAZ Neurologieprofessor Lutz Harms vom Berliner Universitätsklinikum Charité. Wer bezahlt eigentlich dessen Auslandseinsatz?

Das ist eine interessante Frage, die man ihm stellen sollte. Ich hoffe jedenfalls, daß nicht die ukrainische Staatskasse dafür aufkommen muß. Stellen Sie sich doch einmal vor: Ein deutscher Strafgefangener wird in die Charité verlegt. Er läßt keinen deutschen Arzt an sich ran und fordert eine internationale Ärztekommission zur Begutachtung der Klinik, ob diese überhaupt über die medizinischen Voraussetzungen verfüge, ihn zu behandeln. Die Kommission reist aus der ganzen Welt an, erteilt nach Begutachtung das Okay, doch der Gefangenen-Patient lehnt trotzdem ab, daß deutsche Ärzte Hand an ihn legen, etwa um Blutproben zu entnehmen. Er will sich nur von ukrainischen Medizinern verarzten lassen. Die fliegen dann mit großem medialen Getöse ein, schreiben ihren deutschen Kollegen das Behandlungsprogramm vor und schauen dann regelmäßig nach, ob das auch gemacht wird, was sie den Charité-Ärzten diktiert haben. Nehmen wir also diesen beispiellosen Fall einmal an: Glauben Sie, daß die Ukraine die Mission ihrer Ärzte auch noch finanzierte? Meine Phantasie reicht jedenfalls nicht aus, um mir die Umkehrung vorzustellen.

Als neuer Hoffnungsträger der Opposition in Kiew galt der Boxweltmeister Vitali Klitschko. Wirklich durchschlagend war er nicht. Mit seiner Partei Udar (Faust) ist er letztlich hinter den mitregierenden Kommunisten gelandet. Offensichtlich war auch hier der mediale Wirbel größer als die reale Unterstützung in der Bevölkerung. Es gibt in der Ukraine, wie überall in der Welt, den verständlichen Wunsch nach unbelasteten und anständigen Politikern. Deshalb haben Seiteneinsteiger immer eine Chance – etwa Schauspieler in den USA, ich erinnere an Reagan oder Schwarzenegger, oder eben Boxer wie Vitali Klitschko. Übrigens: Es kandidierten auch die Exsportlerin und Unternehmerin Natalja Korolewska und der Fußballstar Andrej Schewtschenko, doch obwohl die Partei der 37jährigen Eisproduzentin 60 Millionen Dollar für den Wahlkampf ausgab, verfehlte »Vorwärts Ukraine« mit lediglich 1,6 Prozent den Einzug ins Parlament.

Die pragmatischen Politiker im Westen schwenkten vor den Wahlen um, sie hatten die alberne Timoschenko mit Recht abgeschrieben und setzten auf Saubermann Klitschko. Aber auch er erreichte sein Wahlziel nicht. Zudem erklärte er sich zur Zusammenarbeit mit der rechtsextremen Partei Swoboda (Freiheit) bereit. Da läuteten selbst in Deutschland die Alarmglocken. Die Überwindung dieser nationalistischen, antisemitischen Partei, die sich auf den Faschisten Stepan Bandera beruft, welcher im Juni 1941 maßgeblich für das Massaker an 7000 Juden in Lwiw (Lemberg) verantwortlich war, ist der tatsächliche Gradmesser für Demokratie und Menschenrechte in der Ukraine.

Ihr Buch »Die Gauklerin. Der Fall Timoschenko« ist gerade in der Ukraine erschienen. Hierzulande ist die mediale Resonanz auf Ihre Recherche über den Aufstieg und Fall der »Gasprinzessin« bescheiden, wie war sie in Kiew?

Riesig. Der Charkower Verlag »Folio« präsentierte am Donnerstag in der Zentrale der Nachrichtenagentur Interfax in Kiew die russische Ausgabe, in vier Wochen soll eine ukrainische folgen. Etwa 30 Journalisten und ein halbes Dutzend Fernsehsender berichteten – in der Hauptnachrichtensendung des Senders Ukraina zum Beispiel gab es einen vierminütigen Beitrag. Das Buch, seine Präsentation und ich als Autor wurden in allen Medien – den systemkritischen wie den staatstragenden – sachlich-kritisch und aufgeschlossen behandelt.

Interview: Rüdiger Göbel

* Frank Schumann ist Verleger und Publizist. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Die Gauklerin. Der Fall Timoschenko« (edition ost), 256 Seiten, 14,95 Euro

Aus: junge Welt, Montag, 19. November 2012


Zurück zur Ukraine-Seite

Zurück zur Homepage