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Boykottdrohung

Timoschenkos deutsche Fangemeinde

Von Werner Pirker *

Trotz ihres äußerst schlechten Leumunds ist Julia Timoschenko von westlichen Politikern in den Märtyrerstatus erhoben worden. Schon ihre Verurteilung wegen Amtsmißbrauchs – das Gericht sah es als erwiesen an, daß Timoschenko in ihrer Eigenschaft als Premierministerin Verträge mit Rußland über die Lieferung von Erdgas zum Nachteil der Ukraine abgeschlossen hatte – wurde als Hexenjagd, mittels derer sich der amtierende Präsident Wiktor Janukowitsch seiner gefährlichsten Rivalin zu entledigen trachte, gebrandmarkt. Im gleichen Atemzug, in dem man die politische Instrumentalisierung der ukrainischen Justiz beklagte, wurde vom Präsidenten der Ukraine gefordert, auf die Einstellung des Verfahrens hinzuwirken und damit die Unabhängigkeit der Justiz außer Kraft zu setzen.

Die Frage, ob das Gerichtsverfahren rechtsstaatlichen Kriterien genügt habe, meinte man erst gar nicht stellen zu müssen, da seine Unrechtmäßigkeit als gegeben vorausgesetzt wurde. Und so werden derzeit auch alle vom Timoschenko-Lager erhobenen Beschuldigungen gegen die Gefängnisleitung in Charkow als der Wahrheit entsprechend vorausgesetzt und zu einer politischen Kampagne gegen die Präsidialmacht in Kiew verdichtet. Nein, zu einem Boykott der Fußball-EM in der Ukraine ruft Sigmar Gabriel nicht auf. Da hängen nun doch zu große Geschäftsinteressen dran. Und auch die Möglichkeit, über die Fußball-Euro die Tristesse des Euro-Alltags ein wenig vergessen zu machen, will genützt sein. Die Boykott-Forderung des SPD-Vorsitzenden richtet sich deshalb nur an die Politiker. Grünen-Vorsitzende Claudia Roth hat sich den Appell zu Herzen genommen und wird nicht zur EM fahren. Als ob das dort irgend jemandem auffallen würde.

Das von deutscher Seite an Kiew gerichtete Angebot, Julia Timoschenko in der Berliner Charité behandeln zu lassen, stellt zwar einen subtilen Einmischungsversuch dar. Dennoch wären die ukrainischen Behörden gut beraten, es anzunehmen. Sie würden sich moralisch über die westliche Wertegemeinschaft erheben, deren mörderische Justiz das Todesurteil über den jugoslawischen Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic verhängt hatte, als sie ihm eine Behandlung in Moskau verweigerte.

Die zauberhafte Julia, die es verstand, ihren ergaunerten Reichtum politisch zu verwerten und politische Macht ihren Geschäftsinteressen nutzbar zu machen, sitzt wegen Wirtschaftsverbrechen und nicht wegen politischer Dissidenz. Das Strafverfahren gegen sie wurde nach der Veröffentlichung eines Berichts US-amerikanischer Anwaltsfirmen, in dem ihr der Mißbrauch öffentlicher Gelder und Betrug vorgehalten wird, eröffnet. In einem getrennten Verfahren wird ihr als früherer Chefin des Energiekonzerns EESU Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung sowie die Bestechung russischer Militärs zur Last gelegt. Eine imposante Karriere, der die Sieger über den Kommunismus den nötigen Respekt nicht versagen wollen.

* Aus: junge Welt, Montag, 30. April 2012


Ball und Boykott

Von Hans-Dieter Schütt **

Wenn Oppositionsführerin Julia Timoschenko nicht freigelassen wird, will Angela Merkel ihren Ministern »empfehlen«, der Fußball-EM in der Ukraine fernzubleiben. Es ist freilich eine Grobform der Selbstüberschätzung: Immer wenn Politiker eine Lage ändern wollen, drohen sie mit Abwesenheit. Das ist, als erpresse ein Bankräuber den Kassenwart mit den Worten: »Wenn du das Geld nicht herausrückst, verschwinde ich wieder!« Der Politiker, der ankündigt, er werde eine Veranstaltung boykottieren, wenn nicht … - er ist dabei, Gutes zu tun.

Was legitimiert Politiker, sich so manisch in Sportnähe aufzuhalten? Nur weil sie sich selber auf finstere Art die Bälle zuwerfen? Weil sie gern Zukunft aufs Spiel setzen? Weil sie geschickt auf Zeit spielen, um ihr Mandat in die Verlängerung zu retten? Diese Leute fühlen sich schon olympisch, weil sie andauernd durch einen Sitzungsmarathon gähnen.

Bei der WM 2006 wunderten sich viele, warum Franz Beckenbauer seine Haushaltshilfe so oft ins Stadion lud - bis man sah, es war Frau Merkel. Seither hält sie das von ihr regierte Land für ein »Sommermärchen« - nur weil immer mehr Leute zur Politik sagen: Das darf ja wohl nicht wahr sein! Nein, Politiker gehören nicht in Stadien. Der Bundespräsident gibt das Maß. Er boykottiert bereits jetzt die Ukraine, wo sich junge Menschen demnächst zusammenrotten - um in bestimmten Abständen vorm Tor der Freiheit eine Mauer zu bilden. Möglichst unüberwindlich. Deshalb, deutsche Politiker, bleibt zu Hause, tut weiter, was nur ihr könnt: den Ball, aber vor allem den Kopf ganz flach halten, wie immer.

** Aus: neues deutschland, Montag, 30. April 2012 (Kommentar)


"USA wollen die Ukraine in die NATO eingliedern"

Der Westen verfolgt mit seinem angeblich humanitären Einsatz für Timoschenko ganz andere Ziele. Gespräch mit Wolfgang Gehrcke ***

Wolfgang Gehrcke ist Obmann der Linksfraktion im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages


Die Staatsführung der Ukraine gerät wegen der Inhaftierung von Julia Timoschenko immer stärker unter Druck. Die Lage ist buchstäblich explosiv – am gestrigen Freitag detonierten in Dnjepropetrowsk vier Bomben. Ist die Fußball-Europameisterschaft gefährdet?

Ich hoffe nicht, auch wenn ich kein Fußballfan bin. Die gegenwärtige Politiker-Debatte über einen eventuellen Boykott finde ich sehr befremdlich. Fußball sollte keine Staatsaffäre sein. Ich hoffe, daß alle diejenigen zur EM fahren können, die sich für Fußball interessieren.

Der Eindruck drängt sich auf, daß der Westen die Fußball-Europameisterschaft als Hebel nutzen will, um politische Änderungen im Lande durchzusetzen. Was könnten Ziele dieser Operation sein?

Es gibt natürlich vieles, was sich in der Ukraine ändern sollte. Die soziale Lage z.B. ist für Menschen katastrophal, viele – vor allem Ältere – müssen dort von dem leben, was sie im Vorgarten oder auf dem Balkon anbauen. Es gibt in der Ukraine einen Kahlschlag bei den kulturellen Einrichtungen, die Demokratie ist unterentwickelt.

Das steht allerdings nicht im Mittelpunkt der Kritik des Westens. Ihn interessieren andere Dinge: der Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim oder die Rolle der Ukraine als Durchgangsland für Öl- und Gaspipelines nach Westeuropa.

Erinnert die gegenwärtige Kampagne nicht an die »orange Revolution« vom November 2004, als mit Hilfe des Westens der NATO-freundliche Viktor Juschtschenko an die Macht gebracht wurde?

Die Ähnlichkeiten sind offensichtlich. Die jetzigen Probleme der Ukraine sind aber alles andere als neu – sie gab es unter Juschtschenko, unter seiner Nachfolgerin Timoschenko und jetzt auch unter Viktor Janukowitsch. Es hat auf ukrainischer Seite nie einen ernsthaften Versuch gegeben, diese Probleme zu beseitigen – und auf westlicher Seite wurden zu viele doppelbödigen Versprechungen gemacht.

Bei Juschtschenko und Timoschenko, den Lieblingen des Westens, war also alles o.k. Und der eher Rußland zugeneigte Janukowitsch ist jetzt der Prügelknabe?

Die USA wollen die Ukraine unbedingt in die NATO eingliedern. Dafür haben sie sich mächtig ins Zeug gelegt – bei einem meiner vielen Besuche dort logierte z.B. Dick Cheney, damals Vizepräsident der USA, zufälligerweise im gleichen Hotel. Er verhandelte über den NATO-Beitritt. Viele europäische Regierungschefs haben der Ukraine auch in Aussicht gestellt, Mitglied der EU zu werden. Das Land ist heute so etwas wie ein Puffer zwischen Rußland und der EU. Janukowitsch selbst ist kein Linker – er repräsentiert allerdings eine eher rußlandfreundliche Schicht reicher Oligarchen.

Ist der Fall des früheren Ölmagnaten Michail Chodorkowski, der in einem russischen Gefängnis sitzt, eine Parallele zu dieser Kampagne? Auch da haben sich Westmedien und die angeschlossenen Politiker für eine Person eingesetzt, die ganz offensichtlich kriminiell gehandelt hatte.

Ich kenne nicht genügend Details zu diesem Fall, auch nicht die rechtlichen Grundlagen der Verfahren und Urteile. Politische Auseinandersetzungen sollten jedenfalls nicht mit Hilfe von Gefängnissen gelöst werden. Und wenn Frau Timoschenko ärztlichen Beistand braucht, dann soll sie ihn doch bekommen, meinetwegen auch im Ausland.

Juschtschenko, der lange ihr politischer Weggefährte war, ist allerdings der Meinung, daß das Urteil nicht politisch motiviert war.

Es hat eine Verhandlung und anschließend ein Urteil gegeben. Ob alles rechtlich korrekt war, kann ich nicht beurteilen – aber ich würde immer den Rat geben: Sucht einen menschlichen Weg.

Gibt es Anzeichen dafür, daß die ukrainische Justiz Timoschenko schlechter behandelt als gewöhnliche Strafgefangene? Warum sollte sie privilegiert werden, nur weil der Westen sie zum Liebling ausgerufen hat?

Ich rate der ukrainischen Führung, eine humanitäre und politische Lösung zu suchen. Das ist durchaus machbar. Gegenüber der russischen Regierung habe ich im Fall Chodorkowski übrigens das gleiche geraten. Alle Entscheidungen müssen selbstverständlich innerhalb der Souveränität der Ukraine getroffen werden.

Interview: Peter Wolter

*** Aus: junge Welt, Samstag, 28. April 2012


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