Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Bomben und Beschwörungen

Anschlagsserie in ukrainischer Stadt / Charité-Chef für Ausreise Timoschenkos *

Es war zweifellos eine andere Bombenstimmung, die sich die ukrainischen Gastgeber der Europameisterschaft im Vorfeld des kontinentalen Balltretens erhofft hatten. In dem 400 Kilometer östlich der Hauptstadt Kiew gelegenen Dnepropetrowsk gingen am Freitag vier Sprengkörper hoch. Mindestens 29 Menschen wurden verletzt, darunter zehn Kinder. Die Bomben waren an zentralen Plätzen innerhalb weniger Minuten detoniert. Die Staatsanwaltschaft sprach von einem »Terroranschlag«.

Dass die im zentralöstlichen Landesteil gelegene Industriemetropole die Geburtsstadt von Julia Timoschenko ist, verlieh der Schreckensmeldung zusätzliche Brisanz. Werden doch die Nachrichten aus der Ukraine seit Wochen vom politischen Gezerre um die prominenteste Gefangene des osteuropäischen Landes bestimmt.

Nachdem die wegen Amtsmissbrauchs verurteilte ehemalige Ministerpräsidentin vorige Woche aus Protest gegen ihre Haftbedingungen in den Hungerstreik getreten war, sah sich die Kiewer Regierung unter Präsident Viktor Janukowitsch verstärkt an den internationalen Pranger gestellt. Einer Besuchsabsage von Bundespräsident Joachim Gauck folgte die Ankündigung weiterer Boykottaktionen durch deutsche Politiker. Nach Meinung des LINKE-Abgeordneten Wolfgang Gehrcke hilft dies »aktuell weder Frau Timoschenko noch ändert sich dadurch etwas an der Situation in der Ukraine«. Ebenso falsch wäre für Gehrcke eine Absage und Teilnahmeverweigerung an der Fußballeuropameisterschaft. Auch der Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes, Michael Vesper, sprach sich gegen einen EM-Boykott aus.

Unterdessen erhielt die Causa Timoschenko am Freitag ausgerechnet in Berlin einen weiteren Eskalationsschub. Charité-Chef Karl Max Einhäupl forderte nämlich Kiew auf, Timoschenko ausreisen zu lassen. »Ich appelliere an den ukrainischen Präsidenten: Seien Sie ein den humanitären Werten verpflichteter Präsident und lassen Sie Frau Timoschenko ausreisen«, so Einhäupl. Eine Behandlung außerhalb der Ukraine sei der den größten Erfolg versprechende Therapieansatz. Die 51-Jährige leide an einem Bandscheibenvorfall und habe chronische Schmerzen.

Von regierungsnahen Kreisen in Kiew war Timoschenko immer wieder als Simulantin hingestellt und dies sogar mit einem Video dokumentiert worden, das die Frau angeblich in ihrer Zelle zeigt. Der Charité-Chef schloss indes definitiv aus, dass Timoschenko simuliert. Kernspin-Aufnahmen würden den Bandscheibenvorfall belegen, sagte er. Das größte Hindernis für eine Behandlung in der Ukraine sei, dass Timoschenko den dortigen Ärzten zutiefst misstraue.

Auch die EU-Kommission sieht sich inzwischen gefordert. »Wir erwarten und rufen die ukrainischen Behörden auf, dass alle juristischen Verfahren gemäß der internationalen Standards umgesetzt werden«, sagte der Sprecher der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton am Freitag in Brüssel. Eine Erklärung, die von ähnlicher Hilflosigkeit zeugt wie Janukowitschs Statement, die Bombenserie in Dnepropetrowsk sei ein »Anschlag auf das ganze Land«. »Wir werden die richtige Antwort geben«, betonte der Staatschef. Welche das sein wird, weiß er vermutlich ebenso wenig wie derzeit Europas Politiker in Sachen Ukraine.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 28. April 2012


Foulspiele

Von Olaf Standke **

Nun also auch noch Bomben in Dnepropetrowsk. Zwar gehört die Geburtsstadt von Julia Timoschenko nicht zu den Austragungsorten der Fußball-Europameisterschaft, doch wachsen damit die Befürchtungen sechs Wochen vor dem Großereignis weiter. So viel hatte man sich in Kiew versprochen von dieser EM. Als Land auf dem Weg in die Europäische Union wollte sich die Ukraine präsentieren und muss sich jetzt fragen lassen, ob der Ball denn überhaupt rollen dürfe, wenn auf dem Feld der Bürgerrechte massiv gefoult wird und die Sicherheit nicht gewährleistet sein sollte.

Die inhaftierte und gesundheitlich angeschlagene Ex-Regierungschefin ist dabei zur zentralen Figur eines politischen Machtspiels geworden, das das Ausland stärker beschäftigt als die Mehrheit der Ukrainer, so Beobachter in Kiew. Es gibt keinen Grund, den behandelnden Berliner Ärzten nicht zu glauben, wenn sie eine medizinische Versorgung Timoschenkos außerhalb der Ukraine als erfolgversprechendsten Therapieansatz sehen. Vielen ihrer Landsleute aber scheint das egal zu sein, in deren Augen ist sie nicht weniger kriminell als die derzeitige Regierung und mitverantwortlich für Korruption und Bürgerrechtsverletzungen in einem Land, in dem auch Linke und Antifaschisten gefährlich leben und immer wieder Ziele gewaltsamer Angriffe werden. So wie der gerade einmal 17-jährige Aktivist Mikhail Norochi, der vor einigen Monaten in Dnepropetrowsk zu Tode geprügelt und gestürzt wurde.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 28. April 2012 (Kommentar)


Bombenexplosionen in der Ukraine

Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen möglichen Terroranschlags ***

Mehrere Bombenexplosionen haben am Freitag die ukrainische Stadt Dnjepropetrowsk erschüttert. Nach Angaben des Ministeriums für Notfallsituationen wurden dabei mindestens 27 Menschen verletzt, darunter neun Kinder.

Die vier Explosionen ereigneten sich den Angaben zufolge kurz nacheinander. Die Zahl der Verletzten bezog sich auf die drei ersten Explosionen, zur vierten lagen zunächst keine näheren Erklärungen vor. Wie eine Ministeriumssprecherin sagte, wurde die erste Explosion durch einen Sprengsatz ausgelöst, der in einem Papierkorb nahe einer Straßenbahnhaltestelle deponiert worden sei. Die zweite Explosion ereignete sich der Sprecherin zufolge in der Nähe eines Kinos, die dritte auf einer belebten Straße.

Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch sprach von einer »Herausforderung« für sein Land. »Wir verstehen, daß dies eine weitere Herausforderung für uns ist, für das gesamte Volk«, sagte Janukowitsch. Innenminister Witali Sachartschenko wollte sich laut der Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine so schnell wie möglich nach Dnjepropetrowsk im Zentrum des Landes begeben. Die Staatsanwaltschaft von Dnjepropetrowsk leitete Ermittlungen wegen eines möglichen Terroranschlags ein.

Dnjepropetrowsk ist die Heimatstadt der inhaftierten Exregierungschefin Timoschenko. Diese verbüßt eine siebenjährige Haftstrafe wegen Amtsmißbrauchs. Seit Monaten leidet sie unter starken Rückenschmerzen; aus Protest gegen ihre Haftbedingungen war sie vor einer Woche in einen Hungerstreik getreten. Die 51jährige wirft den Behörden vor, sie unter Gewaltanwendung gegen ihren Willen vorübergehend aus dem Gefängnis in Charkiw in ein Krankenhaus verlegt zu haben. Timoschenko beschuldigt die Regierung, einen politisch motivierten Prozeß gegen sie veranlaßt zu haben. Die Ukraine ist im Juni gemeinsam mit Polen Gastgeber der Fußball-Europameisterschaft. (AFP/jW)

*** Aus: junge Welt, Samstag, 28. April 2012


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Terrorismus-Seite

Zurück zur Homepage