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Ukrainische Abgeordnete schlagfertig

Sprachengesetz löst Proteste und Gewalt aus *

In der Ukraine hat die Verabschiedung eines Gesetzes, durch das Russisch als regionale Amtssprache eingeführt werden soll, für heftige Proteste gesorgt. Mit Tränengas löste die Polizei am Mittwoch eine Kundgebung von rund tausend Oppositionsanhängern auf, die gegen das Gesetz demonstrierten. Mehrere Personen wurden verletzt. Präsident Viktor Janukowitsch verschob seine Jahrespressekonferenz und berief eine Sitzung der Parlamentsführung und der Fraktionsvorsitzenden ein. Der zwischen Opposition und Regierung heftig umstrittene Gesetzentwurf war am Dienstag überraschend zur letzten Lesung auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt und mit den Stimmen von 248 der 450 Abgeordneten verabschiedet worden.

Die Entscheidung löste unter den Abgeordneten eine Schlägerei aus, mehrere Parlamentarier traten in einen Hungerstreik. Aus Verärgerung, dass auch er nicht über das Votum informiert und deshalb abwesend war, bot Parlamentspräsident Wolodimir Litwin seinen Rücktritt an. Damit das Gesetz in Kraft treten kann, muss es noch von Litwin und Janukowitsch unterzeichnet werden.

Das Gesetz legt Ukrainisch als Staatssprache fest, lässt aber Minderheitssprachen als zweite Amtssprache in Regionen zu, in denen sie gesprochen werden. Im Osten der Ukraine und auf der Krim ist Russisch stark verbreitet.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 5. Juli 2012


Zerrissene Ukraine

Von Detlef D. Pries **

Eben zeigte sich die Ukraine ihren Gästen aus ganz Europa noch von ihrer freundlichen Seite. Jetzt, da die Fußball-EM beendet ist, zeigt sie ihre Zerrissenheit. Ein Gesetz »Über die Grundlagen der staatlichen Sprachenpolitik« löst Schlägereien im Parlament, Demonstrationen auf der Straße, Hungerstreiks, Rücktritte und wütende Kommentare aus.

Verständlich, dass der junge Staat auf die Förderung des Ukrainischen als identitätsstiftende Sprache bedacht ist. Da hat mancher etwas nachzuholen. Auch der gegenwärtige Präsident musste Ukrainisch erst lernen und tat es, wie er behauptet, mit Freude. Das Gesetz lässt den Status der einzigen Staatssprache tatsächlich unangetastet. Es sieht jedoch vor, dass andere Sprachen - darunter Russisch - in solchen Regionen im amtlichen Verkehr benutzt werden können, wo sie von einem erheblichen Teil der Bevölkerung gesprochen werden. Warum erhitzen sich daran die Gemüter? In Finnland ist Schwedisch die zweite offizielle Amtssprache, obwohl sich nur 6 Prozent der Bevölkerung als Schweden bezeichnen. In der Ukraine dagegen nennen nach unterschiedlichen Angaben 11 bis 16 Millionen Bürger das Russische ihre Muttersprache - ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung.

»Hier geht es nicht um einen Sprachenstreit«, gibt Boxstar Witali Klitschko zu, ein Gegner des Gesetzes. »Hier geht es um die Spaltung des Landes«, behauptet er. Doch das ist falsch: Dieser Streit wird von kompromissunfähigen Politikern emotional angeheizt, die nichts als die eigene politische und wirtschaftliche Macht im Auge haben.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 5. Juli 2012 (Kommentar)


Fremde Muttersprache

Proteste gegen Russisch als Amtssprache

Von Werner Pirker ***


Die ukrainische Opposition läßt keine Gelegenheit aus, die gesellschaftliche Polarisierung voranzutreiben. Der mit 248 von 450 Stimmen gefaßte Beschluß des Parlaments in Kiew, Russisch zur zweiten Amtssprache zu erheben, löste heftige Proteste des Antiregierungslagers aus. Abgeordnete gingen aufeinander los, und auch auf der Straße ließen mehrere hundert Demonstranten ihrem antirussischen Ressentiment freien Lauf.

Die Aufregung um das Sprachengesetz weist auf einen eher ungefestigten Nationalcharakter hin. Eine souveräne Nation jedenfalls müßte die Zweisprachigkeit als Vor- und nicht als Nachteil wahrnehmen. Die nationalistische Empfindlichkeit in Teilen der ukrainischen Bevölkerung ergibt sich freilich aus der eher schwachen Position, die das Ukrainische im Sprachwettbewerb mit dem Russischen einnimmt. Noch immer bedient sich die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung der russischen Sprache. Das trifft ganz besonders auf den russophonen Osten, aber auch auf den Süden und die Zentral­ukraine um die Hauptstadt Kiew, die »Mutter der russischen Städte«, zu. Nur die über Jahrhunderte vom ukrainischen Mutterland isolierte Westukraine hat die ukrainische Sprache als Muttersprache zu bewahren verstanden.

Die heute in Kiew die »Landessprache« sprechen, tun dies aus ideologischen Gründen – als ein Bekenntnis zur »europäischen«, dem »Moskowiterreich« entkommenen Ukraine. Dazu mußten sie die »geliebte Muttersprache« aber erst einmal erlernen – im Erwachsenenalter. Wie jene Julia Timoschenko, Tochter einer russischen Mutter und eines armenischen Vaters, die für ihren Aufstieg zur ukrainischen Nationalheldin einen Sprachkurs benötigte.

Die Eigenstaatlichkeit der Ukraine hat keinen romantischen Gründungsmythos. Wenige Monate vor den Augustereignissen 1991 hatte sich das Gros der ukrainischen Bevölkerung in einem Referendum für einen Weiterverbleib ihrer Republik in der UdSSR entschieden. Erst nach dem antisowjetischen Umsturz in Rußland erstrebten die Ukrainer die Unabhängigkeit von Moskau.

Die »orangene Revolution« sollte den Gründungsmythos nachträglich herstellen. Doch die Mehrheit der Bevölkerung wollte den vom bunten Revolutionsvölkchen anvisierten Weg nach Westen nicht mitgehen. Inzwischen sitzt die blondierte Revolutionsheldin ausgerechnet wegen eines – laut Gerichtsurteil zum Nachteil der Ukraine – abgeschlossenen Gasvertrages mit Putin im Gefängnis. Das hat ihrem Image als »prowestliche Politikerin« aber keinen Schaden zugefügt. Im Kampf zwischen zwei Oligarchiefraktionen, die abwechselnd die zunehmende Verelendung der Bevölkerung zu verantworten haben, beanspruchen die Westmächte ihr Recht auf Einmischung. Der Druck wird erhöht. Nachdem die Fußballstadien der westlichen Erpressungspolitik nicht das geeignet Forum boten, könnte vielleicht der Sprachkonflikt als Anlaßfall für einen abermaligen Regimewechsel in Kiew genutzt werden.

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 5. Juli 2012


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