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Ukraine: Die aufgeschobene Krise

"Orangene Revolutionäre" vereinbarten Neuauflage ihrer Regierungskoalition

Von Manfred Schünemann*

Kurz vor Ablauf der verfassungsmäßigen Frist für die Bildung einer Parlamentsmehrheit haben sich die Parteien der »Orangenen Revolution« nach monatelangem Tauziehen auf ein Koalitionsabkommen verständigt und damit das Abgleiten in eine innenpolitische Krise zunächst verhindert.

Fast drei Monate wurde über die Erneuerung des im Herbst vorigen Jahres zerbrochenen Regierungsbündnisses verhandelt. Das Land wurde derweil von einer geschäftsführenden Regierung – ohne funktionierendes Parlament – verwaltet. Woche um Woche verschoben die Wunschkoalitionäre die Konstituierung der am 26. März gewählten Werchowna Rada. Noch am vergangenen Wochenende drohten die Verhandlungen zu scheitern. Erst der Hinweis aus der Präsidialverwaltung, Präsident Viktor Juschtschenko habe »ab 24. Juni das Recht zur Auflösung des Parlaments, falls es nicht zur Koalitionsbildung kommt«, disziplinierte seine eigene Partei »Unsere Ukraine«. Darin haben starke Kräfte nach wie vor Einwände gegen ein neuerliches Bündnis mit Julia Timoschenko und wollten ihre Wiederwahl zur Ministerpräsidentin unbedingt verhindern.

Der Streit um Personen und Posten war aber nur vordergründig das Haupthindernis für die Koalitionsbildung. Wichtiger sind die tiefen Differenzen zwischen den drei Koalitionsparteien – »Unsere Ukraine«, Block Julia Timoschenko und Sozialistische Partei – über Grundfragen der künftigen Entwicklung des Landes und seine außenpolitische Orientierung. So lehnt die SPU die völlige Liberalisierung des Verkaufs von Grund und Boden ab. Unstimmigkeiten bestehen auch hinsichtlich der Kompetenzabgrenzung zwischen den Parlamentsfraktionen und der Regierung sowie über das Vorhaben der Juschtschenko-Partei, Regierungskomitees zu schaffen, die von stellvertretenden Premiers weitgehend eigenverantwortlich geleitet werden sollen. Der Timoschenko-Block sieht darin den Versuch, die verfassungsmäßige Macht der künftigen Ministerpräsidentin zu beschneiden und den Einfluss des Präsidenten auf die Regierungsarbeit zu stärken.

Im Kern ging es erneut um die Grundfrage der ukrainischen Eigenstaatlichkeit. Mehrheitlich fühlt sich die Bevölkerung unzweifelhaft der europäischen Kultur zugehörig, in gleicher Weise aber mit russischer Geschichte, Kultur und Wirtschaft verbunden. Die vom nationalistischen und nationalpatriotischen Flügel der Juschtschenko-Partei »Unsere Ukraine« geförderte und geforderte Politik der Westbindung der Ukraine bei gleichzeitiger konfrontativer Abgrenzung von Russland stößt deshalb bei großen Teilen der ukrainischen Gesellschaft auf Unbehagen und Widerspruch. Das spiegelte sich in Aktionen gegen die Stationierung von USA-Truppen auf der Krim ebenso wider wie in den Beschlüssen örtlicher Volksvertretungen zum Status der russischen Sprache. In den Koalitionsverhandlungen war die SPU trotz massiven Drucks – insbesondere aus den USA – nicht bereit, ihre ablehnende Haltung zu einem NATO-Beitritt aufzugeben. Aber auch in Wirtschaftskreisen, deren Hauptgeschäftsfeld nach wie vor der russische Markt ist, formiert sich das Missbehagen über die einseitige Orientierung gen Westen, weil sie ihre Profitinteressen gehfährdet sehen. Sie verweisen auf den bereits jetzt deutlichen Rückgang der wirtschaftlichen Leistungskraft infolge der Belastungen im ukrainisch-russischen Verhältnis.

Die tiefen Differenzen innerhalb der Troika sind mit der Koalitionsvereinbarung nicht beseitigt. Sie wurden lediglich angesichts massiven Drucks auch von außen zurückgestellt. Die SPU setzte durch, dass vor einem NATO-Beitritt ein Referendum stattfinden muss, was freilich nichts an der vorrangigen außenpolitischen Orientierung nach Westen ändert, die von den anderen Koalitionsparteien praktiziert wird.

Abzuwarten bleibt, ob sich realpolitische Kräfte zeigen durchsetzen können, die eine ausgewogene Politik betreiben und dem Land dadurch innere Stabilität sichern. Erste Signale für das künftige Verhältnis zu Russland wird es geben, wenn Anfang Juli die Verhandlungen über die Erdgaslieferungen im Winterhalbjahr beginnen. Vorzugspreise wird es bei Fortsetzung der politischen Konfrontation gewiss nicht mehr geben.

Die neue »Koalition demokratischer Kräfte«, wie sie sich selbst bezeichnet und wie sie von ihren westlichen Ratgebern gern deklariert wird, steht innenpolitisch vor großen Herausforderungen. Sie muss den wirtschaftlichen Abwärtstrend stoppen, eine soziale Mindestsicherung gewährleisten und die Differenzen zwischen den Landesteilen zu überbrücken versuchen. Andernfalls sind ein weiterer Vertrauensverlust bei der Bevölkerung, wie er schon bei den Parlamentswahlen deutlich wurde, und zunehmende Instabilität bereits programmiert. Es wäre in solchem Fall nur eine Frage der Zeit, bis das »orangene« Bündnis – wie 2005 – wieder zerbricht.

* Aus: Neues Deutschland, 24. Juni 2006


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