Keine "Große Koalition" in Kiew
Parteien blicken auf Präsidentenwahl
Von Manfred Schünemann *
Am Mittwoch (17. Juni) besuchte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit seinem
polnischen Kollegen Radoslaw Sikorski die Ukraine. Der zerstrittenen Führung in Kiew versicherten
sie, die gesamte EU werde die Ukraine auch weiterhin unterstützen. Zugleich verlangten sie
Reformen zur politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung des Landes.
In der ukrainischen Öffentlichkeit halten derweil die Spekulationen darüber an, warum das Projekt
einer »Großen Koalition« der Partei der Regionen (PdR) unter Viktor Janukowitsch und des Blocks
Julia Timoschenko (BJUT) gescheitert ist. Nach wochenlangen internen Verhandlungen hatte
Janukowitsch kürzlich überraschend verkündet: »Die Zeit bis zu den nächsten Präsidentenwahlen ist
zu kurz, um eine neue Koalition und eine neue Regierung zu bilden.«
Zweck der neuen Koalition sollte es sein, durch eine Verfassungsänderung größere politische
Stabilität zu gewährleisten und die dauernden Machtkämpfe zwischen Parlament, Präsident und
Regierung zu beenden. Dem ausgehandelten Verfassungsentwurf zufolge sollte der Präsident
künftig durch die Werchowna Rada gewählt werden, die stärkste Partei sollte bei Parlamentswahlen
automatisch die absolute Mehrheit der Sitze erhalten.
Diese Änderungen stießen bei der politischen Konkurrenz natürlich auf scharfe Ablehnung. Präsident Viktor Juschtschenko sprach vom »Versuch eines Staatsstreichs und der Machtergreifung
durch Politiker zweier politischer Gruppierungen«. Auch in der Öffentlichkeit überwogen Zweifel an
Realisierbarkeit und Legitimität der vorgeschlagenen Verfassungsänderungen. Über 80 Prozent der
Wahlberechtigten betrachten die Direktwahl des Präsidenten als wesentliche demokratische
Errungenschaft. Und selbst in den beteiligten Parteien wurde die Kritik an einem Zusammengehen
von BJUT und PdR wieder lauter. Das Misstrauen zwischen den einst verfeindeten Blöcken ist nach
wie vor groß. Offensichtlich veranlassten vor allem diese Stimmungen Janukowitsch zu der
Erklärung, sein Herz sage ihm, dass ein Direktwahl des Präsidenten durch das Volk »der einzig
richtige Weg ist, das Land zu einen«. Bis zu dieser Wahl wird es also wahrscheinlich keine neue
Koalition geben. Alle Parteien konzentrieren sich bereits auf den Kampf ums Präsidentenamt,
obwohl der Wahltermin noch nicht endgültig feststeht. Ebenso wenig ist entschieden, ob das
Parlament gleich mitgewählt wird.
Auf die Koalitionsabsage Janukowitschs erklärte Ministerpräsidentin Timoschenko, über
Verfassungsänderungen müsse nunmehr im Zusammenhang mit der Präsidentenwahl entschieden
werden. Im übrigen gab sie sich überzeugt davon, dass sie und ihre Partei die Wählermehrheit hinter
sich haben werden. Umfragen sehen derzeit Janukowitsch und Timoschenko mit etwa 25 und 20
Prozent der Stimmen deutlich vor anderen möglichen Kandidaten. Amtsinhaber Viktor
Juschtschenko kommt demnach kaum auf fünf Prozent.
Auffällig sind die wachsenden Umfragewerte für den jungen, ehrgeizigen Juschtschenko-Vertrauten
Arseni Jazenjuk, der mit einer neuen Partei Einiges Zentrum das Stimmenpotenzial des zerfallenden
Blocks »Unsere Ukraine – Selbstverteidigung des Volkes« abfischen will. Der Partei werden bereits
12 Prozent der Wählerstimmen vorausgesagt und Jazenjuk gilt als aussichtsreicher Bewerber für
das Präsidentenamt. Das Einige Zentrum orientiert auf eine rasche Integration der Ukraine in die EU
und das »transatlantische Bündnis«. Jazenjuk knüpft bereits eifrig politische Kontakte in westlichen
Staaten. Konkurrenz macht ihm allerdings der bisherige Präsidialamtschef Viktor Baloga, der sein
Amt im Streit mit Juschtschenko aufgegeben hat und sich ebenfalls in der neuen Partei betätigt,
hinter der jene Wirtschaftskreise stehen, die zuvor Juschtschenko und seinen Block finanziert
hatten.
Als sicher gilt, dass für die Kommunisten wieder Petro Simonenko antreten wird. Unklar ist noch, wie
sich die Sozialisten entscheiden, die bei den vorigen Parlamentswahlen eine Schlappe erlitten und
seither für ein neues Linksbündnis eintreten.
Die politische Stabilität, die Steinmeier und Sikorski der Ukraine wünschen, wird jedenfalls in den
Wochen und Monaten bis zur Präsidentenwahl kaum eintreten. Das national-konservative Lager wird
mit allen Mitteln versuchen, eine Neuorientierung des Landes, wie sie mit einer Koalition von BJUT
und PdR möglich geworden wäre, zu verhindern. Die Regierung Julia Timoschenkos wiederum
bedarf für wichtige Entscheidungen stets der Unterstützung entweder der PdR oder verbliebener
Anhänger des Präsidenten. Doch niemand wird bereit sein, der Ministerpräsidentin durch
Unterstützung von Maßnahmen zur Krisenbewältigung Wahlhilfe zu leisten.
* Aus: Neues Deutschland, 18. Juni 2009
Europäische Unterstützung für die Ukraine - Steinmeier und Sikorski gemeinsam in Kiew
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und sein polnischer Amtskollege Radek Sikorski haben der Ukraine Unterstützung bei der Überwindung der Wirtschaftskrise und der Annäherung an die EU zugesagt.
Bei ihrem gemeinsamen Besuch in Kiew forderten sie aber auch ein "Minimum an Kooperation" der politischen Kräfte in der Ukraine und mehr Ehrgeiz, um die Chance einer Annäherung an die EU zu nutzen. Eine erneute Krise der Gasversorgung Europas müsse vermieden werden.
Die Ukraine befindet sich zur Zeit in einer schwierigen Phase: Innenpolitisch gelähmt, ist das Land von der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise besonders stark getroffen. Experten schätzen, dass das Bruttoinlandsprodukt 2009 um etwa 10 % schrumpfen wird.
Steinmeier betonte, Behauptungen, die Ukraine stehe vor einem Staatsbankrott, halte er für nicht gerechtfertigt. In den vergangenen Wochen sei vielmehr eine leichte Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation im Land zu beobachten.
Bereits im November 2008 war mit dem Internationalen Währungsfonds ein Kredit in Höhe von 16,4 Milliarden US-Dollar vereinbart worden. Deutschland und Polen hatten sich damals besonders für die Gewährung des Kredits eingesetzt.
Die Auszahlung der einzelnen Tranchen wird seitens des IWF aber an eine Reihe von Bedingungen geknüpft, für deren Erfüllung Steinmeier und Sikorski in Kiew warben. Wichtiges Ziel der Reise sei es sicher zu stellen, sagte Steinmeier, "dass die Ukraine mit dem IWF kooperiert und dass die notwendigen Mittel fließen können. Wir haben Respekt vor dem politischen Wettbewerb. Es wird aber ein Minimum an Kooperation auch gegensätzlicher Kräfte benötigt."
Annäherung an EU voran bringen
Steinmeier und Sikorski ermunterten die ukrainischen Partner zu mehr Ehrgeiz bei den Verhandlungen über den Abschluss eines Assoziierungsabkommens mit der EU.
Bereits unter deutscher EU-Präsidentschaft 2007 waren die Verhandlungen zwischen der Ukraine und der EU begonnen worden. Dieses hat insbesondere umfassende Bestimmungen zum Freihandel zum Inhalt.
Steinmeier und Sikorski äußerten ihre Hoffnung, dieses Abkommen noch 2009 zu unterzeichnen: "Ich hoffe, dass wir unter schwedischer Präsidentschaft zu einem Ende der Verhandlungen kommen." Die ukrainische Seite sollte die Chancen, die im Abkommen liegen, erkennen und die Verhandlungen zügig voran treiben.
Erneute Gaskrise vermeiden
Steimeier und Sikorski forderten, es gelte alles zu unternehmen, um eine erneute Krise der Gasversorgung Europas zu vermeiden.
Experten der EU werden sich, so Steinmeier, ein Bild davon machen, wie weit die Gasspeicher in der Ukraine gefüllt seien, und welche Menge noch gebraucht werde, um den Durchfluss nach Europa zu sichern: "Ich sehe eine Chance, dass wir jetzt in fairere Formen der Kooperation gelangen, die uns Streitigkeiten zu vermeiden helfen."
Steinmeier und Sikorski kündigten an, dass ihre Länder in den kommenden Monaten eines (Deutschland in der Stadt Donezk) bzw. zwei (Polen) neue Generalkonsulate in der Ukraine eröffnen werden.
Quelle: Website des Außenministeriums; 17. Juni 2009; www.auswaertiges-amt.de
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