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Der endlose Machtkampf in Kiew

Parlament blockiert sich selbst / Neuwahlen auf unbestimmte Zeit verschoben

Von Manfred Schünemann *

Ein handlungsunfähiges Parlament, ein unbeliebter Präsident und eine instabile Regierung – die politische Krise der Ukraine wird zur unendlichen Geschichte. Obendrein erschüttert die Wirtschaftskrise das Land.

Sein Rücktrittsgesuch hatte Parlamentspräsident Arseni Jazenjuk bereits im September eingereicht, nachdem die »demokratische Koalition« des Präsidentenblocks »Unsere Ukraine« und des Blocks von Ministerpräsidentin Julia Timoschenko (BJUT) zerfallen war. Doch die Werchowna Rada behandelte das Gesuch nicht – bis zur vergangenen Woche, als die oppositionellen Fraktionen der Partei der Regionen (PdR), der KPU und des Blocks Litwin gemeinsam mit zehn Abgeordneten von »Unsere Ukraine« für die Abwahl Jazenjuks stimmten. Die Arbeit des Parlaments – ohnehin durch tagelange Präsidiumsbesetzungen und handgreifliche Auseinandersetzungen behindert – ist damit blockiert. Denn einen Nachfolger gibt es bisher nicht und laut Verfassung darf keiner der Stellvertreter Gesetze ausfertigen, selbst wenn sie vom Parlament gebilligt wurden.

Betroffen sind auch die Gesetze für die Inanspruchnahme eines Stand-by-Kredits des Internationalen Währungsfonds über 16,5 Milliarden Dollar. Nicht einmal die Mittel für vorgezogene Parlamentswahlen, die Präsident Viktor Juschtschenko für den 7. Dezember angesetzt, auf den 14. Dezember verlegt und schließlich für unbestimmte Zeit verschoben hatte, können bewilligt werden. Fragt sich, warum die Abwahl des Parlamentschefs gerade jetzt betrieben wurde. Stecken Präsident Viktor Juschtschenko und jener Teil seines Blocks dahinter, der schon seit Längerem eine Koalition mit der Partei der Regionen anstrebt? Andererseits rückt die Parlamentswahl, die Ministerpräsidentin Julia Timoschenko unbedingt verhindern will und an der nur noch die PdR interessiert zu sein scheint, durch diese Aktion weiter in die Ferne. Ob es aber gelingt, ohne Wahlen eine neue Regierungskoalition zu vereinbaren und Julia Timoschenko von ihrem Posten zu verdrängen, bleibt aufgrund der grundsätzlichen Unterschiede zwischen den möglichen Koalitionspartnern fraglich.

Viktor Juschtschenko kommt die neuerliche Zuspitzung des innenpolitischen Machtkampfes nicht ungelegen. Vor dem Hintergrund der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise und eines gerade noch verhinderten Staatsbankrotts können sich der Präsident, seine Verwaltung und der von Juschtschenko geleitete Nationale Sicherheitsrat als einzige Stabilitätsfaktoren präsentieren. Nicht von ungefähr warnte Altpräsident Leonid Krawtschuk vor der Gefahr, dass in der Ukraine ein allgewaltiges Präsidialregime entstehen könnte, das alle parlamentarische Kontrolle ausschaltet. Dies böte dem Präsidenten die Möglichkeit, den Beitritt der Ukraine zur NATO ohne legislative Beschränkung und entgegen dem Willen der Bevölkerungsmehrheit zu beschleunigen.

Juschtschenko hat seine diesbezüglichen Absichten gegenüber NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer nachdrücklich bekräftigt. Anfang Dezember wollen die NATO-Außenminister erneut darüber beraten, ob der Ukraine offiziell der Kandidatenstatus zuerkannt wird. Diplomatische Aktivitäten deuten darauf hin, dass Kiew andernfalls durch einen Bündnisvertrag mit den baltischen Staaten und anderen osteuropäischen NATO-Mitgliedern einen Sonderstatuts im Pakt erhalten könnte. Jusch-tschenko glaubt für dieses Vorgehen auch die Unterstützung des künftigen USAPräsidenten Barack Obama zu haben, der in einer Botschaft an den Kongress der Auslandsukrainer betonte, »alles dafür zu tun, dass die Ukraine den nächsten entscheidenden Schritt machen kann, ihren rechtmäßigen Platz als Mitglied der euroatlantischen Gemeinschaft einzunehmen«.

Derweil werden die Folgen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise immer deutlicher spürbar. Nach offiziellen Angaben ist das Wachstumstempo der ukrainischen Wirtschaft seit Jahresbeginn kontinuierlich gesunken. Im Oktober betrug es nur noch etwa zwei Prozent (2007 – 7,6 Prozent). Die Industrieproduktion ist bereits geschrumpft, zum Jahresende wird der Beginn einer Rezession befürchtet. Die Zahlungsunfähigkeit konnte nur durch den kurzfristig gewährten IWFKredit verhindert werden. Voraussetzung war die Verabschiedung eines Stabilisierungsprogramms, auf das sich eine Parlamentsmehrheit (ohne Partei der Regionen und KPU) nach längerem Streit verständigt hatte. Wie in den meisten europäischen Staaten geht es darin um Staatsgarantien und verstärkte Bankenkontrolle.

Von außerordentlicher Tragweite für die ukrainische Wirtschaft bleibt die vertragliche Regelung russischer Gaslieferungen für die nächsten Jahre. Ministerpräsidentin Julia Timoschenko bemüht sich intensiv um ein neues Lieferabkommen mit Gazprom zu vereinbaren. Nach einem Treffen mit Wladimir Putin am Rande einer GUS-Tagung in Chisinau am letzten Sonnabend äußerte sie sich zuversichtlich, dass der Vertrag bis Ende November unterzeichnet wird. Demnach könnte die Ukraine auch für die nächsten Jahre Vorzugspreise (unter 300 Dollar für 1000 Kubikmeter) in Anspruch nehmen. Ob es tatsächlich dazu kommt, hängt aber auch von Präsident Juschtschenko aber, der schon manche von Timoschenko ausgehandelte Abmachung blockiert hat und dafür auch zusätzliche Belastungen im angespannten ukrainisch-russischen Verhältnis in Kauf nahm.

* Aus: Neues Deutschland, 20. November 2008


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