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Ukraine sucht Weg aus der Krise

Parlament soll gemeinsamen Wahltermin von Präsident und Ministerpräsident absegnen

Von Manfred Schünemann *

Das ukrainische Parlament hat nunmehr über den Termin für eine Neuwahl abzustimmen, auf den Präsident Viktor Juschtschenko und Regierungschef Viktor Janukowitsch sich am Wochenende geeinigt hatten. Ob die Abgeordneten in Kiew dem erreichten Kompromiss zustimmen und den Wahltermin im September bestätigen, ist indes ungewiss.

Die Zeichen stehen auf leichte Entspannung. Eine Eskalation der Staatskrise, wie sie noch in der letzten Woche durch den Einsatz von Militär und immer weiteren eigenmächtigen Entscheidungen des Präsidenten drohte, scheint durch die gemeinsame Erklärung von Präsident Viktor Juschtschenko, Ministerpräsident Viktor Janukowitsch und Parlamentspräsident Oleksandr Moros zunächst abgewendet zu sein.

Der ausgehandelte Kompromiss verknüpft die von Präsident Jusch-tschenko verfügte Auflösung des Parlaments mit der Hauptforderung des Regierungslagers, vorgezogene Neuwahlen auf der Grundlage der Verfassung und nach Bestätigung der erforderlichen Gesetzesänderungen durch die Werchowna Rada durchzuführen. Ausdrücklich bestätigt werden zudem die Parlamentsbeschlüsse der zurückliegenden Wochen, in denen die Oppositionsparteien die Abstimmungen boykottierten. Im Gegenzug verpflichten sich die Regierungsparteien, die bereits vorbereiteten Gesetze für den Beitritt der Ukraine zur Welthandelsorganisation (WTO) im Parlament nicht länger zu blockieren.

Beide politischen Lager können somit ohne allzu deutlichen Gesichtsverlust in den bevorstehenden Wahlkampf gehen. Die jetzt vereinbarte politische Lösung war im Grundsatz schon vor Wochen zwischen den beiden Hauptkontrahenten – dem Lager des Präsidenten und der Partei der Regionen von Ministerpräsident Janukowitsch – ausgehandelt worden. Bereits Ende April verkündeten Spitzenvertreter der hinter den jeweiligen Parteien stehenden Wirtschaftskreise das Ende des Machtkampfes. Anfang Mai verständigten sich Juschtschenko und Janukowitsch grundsätzlich auf die Durchführung vorgezogener Wahlen. Schwieriger als gedacht erwies sich aber die Einbindung der anderen politischen Kräfte. Das Oppositionslager um Julia Timoschenko blockierte mit der Forderung nach einem Wahltermin noch vor der Sommerpause bis zuletzt das Zustandekommen einer tragfähigen Übereinkunft, weil man sich bei einem frühen Wahltermin einen weiteren Stimmenzuwachs erhofft.

Parlamentspräsident Moros, der mit seiner Sozialistischen Partei ebenso wie die Kommunisten um den Wiedereinzug ins Parlament bangen muss, verweigerte dem ausgehandelten Deal beharrlich seine Zustimmung und mobilisierte dagegen die im Parlament verbliebene Mehrheit der Abgeordneten des Regierungslagers. Wiederholt begründete er seine generelle Ablehnung von Neuwahlen mit dem »Verfassungsbruch von Seiten des Präsidenten« und forderte die Einstellung dieser »ungesetzlichen Handlungen«, da sie »letztendlich zum Verlust der Staatlichkeit der Ukraine« führen könnten.

Mit der jetzt vereinbarten Kompromisslösung werden die eigentlichen Ursachen der Staatskrise (politischer Machtkampf zwischen rivalisierenden wirtschaftlichen Interessengruppen; politische und geistig-kulturelle Unterschiede zwischen den westlichen und östlichen Landesteilen; Auseinandersetzungen über die grundsätzliche außenpolitische Orientierung) nicht beseitigt. Die überstandene Staatskrise verdeutlichte aber den politischen Kräften und der ukrainischen Öffentlichkeit eine wichtige Erfahrung. Der Präsident und die von ihm repräsentierten Kräfte waren und sind bereit, ihren politischen Kurs mit allen Mitteln – bis hin zum Verfassungsbruch und zum Einsatz von Gewaltmitteln – auch gegen Mehrheitsentscheidungen durchzusetzen. Das wird in Hinblick für anstehende Entscheidungen zum NATO-Beitritt und für andere gesellschaftspolitische Schritte nicht ohne Bedeutung bleiben. Zugleich zeigte sich, dass die wichtigsten politischen Kräfte und Parteien kompromissfähig sind, um künftige Regierungskoalitionen zu ermöglichen.

Alle Prognosen gehen davon aus, dass sich nach den vorgezogenen Parlamentswahlen am politischen Kräfteverhältnis im Lande nur wenig ändern wird. Die Partei der Regionen von Ministerpräsident Janukowitsch wird stärkste politische Kraft bleiben. Die Präsidentenpartei »Unsere Ukraine« wird viele Wählerstimmen verlieren, die aber im Wesentlichen vom zentristischen Oppositionslager um Julia Timoschenko aufgefangen werden.

Angestrebt werden mit den Parlamentswahlen die Ausschaltung der Sozialisten und Kommunisten aus der jetzigen Regierungskoalition und die Bildung der schon nach den letzten Wahlen angestrebten »Große Koalition« zwischen der Janukowitsch-Partei und dem Juschtschenko-Lager. Damit diese Planung, die auch vom Westen immer offener favorisiert wird, aufgeht, bedarf es aber zweier Voraussetzungen: Zum einen darf der Wahlblock von Julia Timoschenko nicht zu stark werden, und zum anderen muss für die linksreformistischen Kräfte – und vor allem für Oleksandr Moros – eine akzeptable Form der politischen Einbindung gefunden werden. Und zuerst muss das Parlament Neuwahlen sein Plazet geben.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Mai 2007


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