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Krisenherd Krim

Juschtschenko zündelt mit "Ukrainisierung" und Russophobie

Von Willi Gerns *

Seit der Wahl Viktor Juschtschenkos zum Präsidenten der Ukraine Ende 2004 sind die Auseinandersetzungen zwischen der Ukraine und der zur Ukraine gehörenden Autonomen Republik Krim nicht nur in den ukrainischen und russischen, sondern auch in den westlichen Medien zu einem Dauerbrenner geworden. Mehr und mehr wird dieser Konflikt dabei zu einer russisch-ukrainischen Konfrontation hochstilisiert. Je nach politischem Standort ist bei den einen von Provokationen Juschtschenkos und seines Umfeldes, bei den anderen von Separatismus auf der Krim und russischen Absichten die Rede, die Krim zu annektieren. Das letzte Szenario wird besonders nach dem jüngsten Südkaukasus-Krieg und der Anerkennung Südossetiens und Abchasiens durch Rußland an die Wand gemalt.

Wir wollen uns den Fakten zuwenden. Um sie einordnen zu können, ist es unumgänglich, zunächst einen kurzen Blick auf die jüngere Geschichte der Krim und den derzeitigen Status der Halbinsel zu werfen.

Geschichte und heutiger Status

Nachdem die Krim in ihrer bis weit vor unsere Zeitrechnung zurückreichenden wechselvollen Geschichte nacheinander unter mehr als einem Dutzend verschiedener Herrschaftsformen gestanden hatte, geriet sie Ende des 18. Jahrhunderts unter die Oberhoheit des zaristischen Rußlands. Während des Bürgerkrieges und der Intervention der 14 imperialistischen Staaten nach dem Sieg der Oktoberrevolution war sie zeitweilig von weißen Truppen besetzt. Nach der Befreiung durch die Rote Armee wurde sie 1921 eine autonome sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) innerhalb Sowjetrußlands.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Halbinsel von der faschistischen deutschen Wehrmacht okkupiert. Nach ihrer Befreiung 1944 wurde der Status einer ASSR nicht wiederhergestellt. Die Krim wurde zu einem gewöhnlichen administrativen Territorium der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Der Grund dafür ist wahrscheinlich in dem kollektiven Vorwurf an die Krimtataren (nach Angaben für 1936 fast ein Viertel der Bevölkerung der Krim) zu suchen, mit den deutschen Besatzern kollaboriert zu haben. Sie wurden nach Zentralasien verbannt und durften erst ab 1988 zurückkehren.

Unter Nikita Chruschtschow, von 1953 bis 1964 Erster Sekretär der KPdSU, wurde die Halbinsel dann 1954 aus der RSFSR an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik übertragen. Während dies 1954 trotz des Umstands, daß die Bevölkerungsmehrheit der Krim aus ethnischen Russen bestand, in dem einheitlichen Vielvölkerstaat UdSSR keine größere Rolle spielte, liegt darin nach der Zerschlagung der Sowjetunion – wie wir im weiteren sehen werden – sehr wohl eine Quelle von Konflikten.

Die jüngere Geschichte der Krim hat ihren Niederschlag auch in deren heutiger Bevölkerungsstruktur gefunden. Die ethnischen Russen stellen mit rund 60 Prozent die große Mehrheit der etwa zwei Millionen Bewohner, gefolgt von den Ukrainern mit etwa 24 Prozent und den Krimtataren mit zwölf Prozent. Hinzu kommen Angehörige vieler anderer Ethnien. Noch eindeutiger ist die Dominanz des Russischen in Sprache und Kultur. So bezeichneten 2001 bei einer Volkszählung 77 Prozent der Krimbewohner Russisch als ihre Muttersprache, elf Prozent Krimtatarisch und zehn Prozent Ukrainisch.

Im Januar 1991 hat sich die große Mehrheit der Krimbewohner in einem Referendum für eine autonome Krimrepublik innerhalb der Sowjet­union ausgesprochen. Diese Entscheidung wurde jedoch sehr bald von der Auflösung der UdSSR und der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine eingeholt. Daraufhin verabschiedeten die Abgeordneten des Parlaments der Krim im Mai 1992 eine Verfassung der Republik Krim. Sie wurde von den Machtorganen der Ukraine nicht akzeptiert. Es kam immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Verfassung und den Status der Krim innerhalb der ukrainischen Republik, die sich mehr als sechs Jahre hinzogen. Erst im Oktober 1998 wurde dann eine Verfassung der Autonomen Republik Krim (ARK) beschlossen, die von beiden Seiten akzeptiert wurde.

Diese Verfassung gibt der Krim Autonomierechte, die teilweise über die anderer Autonomien weit hinausgehen. Die Krim hat ein eigenes Staatswappen, einen eigenen Präsidenten und eine eigene Regierung. Nach Aussagen des kommunistischen Abgeordneten des ukrainischen Parlaments und Vorsitzenden des gesellschaftlichen Rats zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Vollmachten der Autonomen Republik Krim, Leonid Gratsch, in einem Interview für die US-Zeitung Chicago Tribune gehört zu den Rechten der ARK auch die Beteiligung an der Ausarbeitung außenpolitischer und außenwirtschaftlicher Entscheidungen der Ukraine, die die ARK berühren. Ein weiteres Recht betrifft die Verfügung über auf der Krim erhobene Steuereinnahmen. Angesichts der Tatsache, daß Russisch für die überwältigende Mehrheit der Krimbewohner die Muttersprache ist, sind die in vier Paragraphen der Verfassung verankerten Regelungen über den Gebrauch dieser Sprache von ganz besonderer Bedeutung. Sie garantieren den Gebrauch des Russischen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – u. a. im Bildungswesen, in Kultur und Wissenschaft sowie in der Gerichtsbarkeit.

Ukrainisierung und Russophobie

Seit dem Machtantritt Juschtschenkos Anfang 2005 werden die Autonomierechte der Krim in zunehmendem Maße von der ukrainischen Zentralregierung in Kiew mißachtet. Leonid Gratsch führt dafür zahlreiche Beispiele an. Er nennt z.B. den von Juschtschenko, der Ministerpräsidentin und dem Parlamentspräsidenten der Ukraine unterzeichneten Brief an die NATO, in dem um Aufnahme der Ukraine in den Aktionsplan für die NATO-Mitgliedschaft ersucht wird. Dieses Ersuchen steht im krassen Widerspruch zur Haltung der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung. Nach Umfragen von Ende August sind lediglich 18 Prozent der Meinung, daß die Ukraine »möglichst rasch« der NATO beitreten sollte. Mehr als die Hälfte beantworteten die Frage nach dem NATO-Beitritt mit einem »definitiven Nein«.

Auf der Krim ist diese Ablehnung noch wesentlich größer, und sie äußert sich nicht nur bei Befragungen, sondern auch in machtvollen Protestaktionen wie im Juni 2006 bei den Protesten gegen die unter Verletzung der ukrainischen Verfassung veranstalteten NATO-Manöver auf der Krim. Bei einem NATO-Beitritt der Ukraine bestünde die Perspektive der Krim zweifellos darin, den USA und der NATO als Flugzeugträger und Marinebasis gegen Rußland zu dienen. All das berührt natürlich die Interessen der ukrainischen Bürgerinnen und Bürger insgesamt, die der Krim aber in ganz besonderem Maße. Leonid Gratsch weist darum darauf hin, daß beim Brief an die NATO entsprechend der Verfassung der ARK die Krim hätte konsultiert werden müssen, entweder über das dortige Parlament oder über ein Referendum.

Beschnitten wird nach seinen Worten auch die Hoheit der Verfassungsorgane der Krim über die auf der Halbinsel erhobenen Steuern. Sie müssen nach Kiew abgeführt werden, und die Krim muß dort als Bittsteller auftreten.

In besonderem Maße ist die Krim durch die unter Juschtschenko vorangetriebene Diskriminierung des Russischen betroffen. Sie ist derart eklatant, daß selbst in westlichen Medien die Rede von einer »Ukrainisierung« ist.

Wie in einem Beitrag von Pierre Heumann aus Kiew im Handelsblatt vom 11. September zu lesen war, soll in den Schulen in der Perspektive nur noch auf Ukrainisch unterrichtet werden. Während z.B. in Kiew vor vier Jahren – als Juschtschenko das Staatsruder übernahm – noch an etwa 200 Schulen auf Russisch unterrichtet wurde, sind es heute nur noch sechs. Ab 2010 dürfen dann bereits Tests der Schülerinnen und Schüler nur noch in Ukrainisch vorgenommen werden. Russischen Publikationen ist darüber hinaus zu entnehmen, daß nach einer Anordnung des ukrainischen Ministers für Bildung und Kultur, Iwan Wakartschuk, in drei Jahren an allen Hochschulen auf dem Territorium der Ukraine ausnahmslos nur noch auf Ukrainisch gelehrt werden darf.

Der Ukrainisierungsfeldzug Juschtschenkos und seines Gefolges betrifft aber nicht nur Schulen und Hochschulen. So ist nach dem erwähnten Beitrag im Handelsblatt z. B. die Zahl der Filme auf Russisch begrenzt, russische Theaterproduzenten können, anders als ukrainische, nicht mit Subventionen rechnen. Und selbst Beipackzettel von Medikamenten sind nur auf Ukrainisch abgefaßt. Wie Leonid Gratsch am 22. Oktober im Rundfunksender »Stimme Rußlands« berichtete, soll nach einer Entscheidung der ukrainischen Machthaber vom 1. November an auch die Übertragung der russischen Rundfunk- und Fernsehkanäle in der Ukraine abgeschaltet werden.

Eine Provokation für die große Mehrheit der ethnischen Russen, aber auch für viele andere Bürger der Ukraine bedeuten zudem die Anstrengungen Juschtschenkos und seines Klans zur Umdeutung der Geschichte. So wird die schreckliche Hungersnot der Jahre 1932/33, von der weite Teile Rußlands, darunter besonders auch die Ukraine, betroffen waren, als »Genozid« der Sowjetunion an der ukrainischen Bevölkerung in den Geschichtsbüchern dargestellt und in den Schulen verpflichtend gelehrt. Zu Freiheitskämpfern und Nationalhelden des »ukrainischen Befreiungskampfes« werden die Nazikollaborateure und Judenmörder der nationalistischen Bewegung OUN (»Organisation Ukrainischer Nationalisten«) und ihres militärischen Armes, der UPA (»Ukrainische Aufstandsarmee«), hochstilisiert.

Im Unterschied zu anderen territorialen Einheiten in der UdSSR hat die Krim beim Auseinanderbrechen der Sowjetunion nicht den Weg der Sezession beschritten. Trotz der eklatanten Verletzungen der verfassungsmäßigen Rechte der ARK fordern die zuständigen Organe der Autonomen Republik auch heute nicht die Loslösung von der Ukraine. Allerdings verlangen sie ganz entschieden die Einhaltung dieser Rechte.

Die russische Marinebasis

Im Gegensatz zu anderslautenden Behauptungen ukrainischer Nationalisten und ihrer Nachbeter in westlichen Medien betreibt auch Moskau keine Politik der Separierung der Krim oder gar deren Anschluß an Rußland. Allerdings liegt auf der Hand, daß die Politik der gewaltsamen Ukrainisierung der ethnisch russischen Bevölkerung sich negativ auf die offiziellen russisch-ukrainischen Beziehungen auswirken muß. Und diese sind ohnehin durch die Bestrebungen der Führung in Kiew, das Land gegen alle Widerstände der Bevölkerung dem NATO-Militärpakt anzuschließen sowie durch die Auseinandersetzungen um den Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol schwer belastet.

Letztere haben ihren Anfang bald nach dem Zerbrechen der UdSSR und der Unabhängigkeit Rußlands und der Ukraine genommen. Sie konnten jedoch durch den russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrag von 1997 bedeutend entschärft werden. Rußland hat seither einen Teil des Militärhafens Sewastopol für seine Schwarzmeerflotte gepachtet. Der Pachtvertrag läuft bis 2017.

Rußland hat wiederholt erklärt, daß es an einer Verlängerung dieses Vertrages interessiert ist. Seit der Machtübernahme Juschtschenkos wird dies jedoch kategorisch abgelehnt – sicherlich nicht ohne Absprache mit dessen Hintermännern in Washington, die es darauf abgesehen haben dürften, nach einem NATO-Beitritt der Ukraine dort ihre Flotteneinheiten direkt vor den Toren Rußlands zu stationieren.

Mehr noch, Juschtschenko und sein Umfeld lassen keine Gelegenheit für Provokationen gegen die russische Marinebasis verstreichen. So schreibt Rainer Lindner von der Stiftung Wissenschaft und Politik in einem Kommentar der ukraine-analysen (43/2008), daß Juschtschenko das Wiedereinlaufen des russischen Raketenkreuzers »Moskwa« in die russische Basis Sewastopol nach dessen Einsatz im Südkaukasus-Krieg zunächst verhindern wollte. »Er besann sich jedoch und verfügte am 13. August 2008, daß der Ukraine eine stärkere Kontrolle über die Bewegung von Schiffen und Flugzeugen der russischen Schwarzmeerflotte vorbehalten sei. Sein Beschluß sieht vor, daß die ukrainischen Sicherheitsorgane künftig 72 Stunden vorher über geplante Schiffs- und Flugzeugbewegungen der Schwarzmeerflotte informiert werden müssen. Rußlands Präsident Medwedew verbat sich hingegen eine solche Einmischung in die operativen Planungen der russischen Marine und verwies auf die bestehenden Verträge.«

Wie die russische Zeitung Nesawisimaja Gazeta (NG) am 8.10.2008 berichtete, warnt selbst der ukrainische Innenminister Juri Luzenko ausdrücklich vor geplanten Provokationen gegen die russische Schwarzmeerflotte: »Die Russen müssen ständig höflich und klar daran erinnert werden, wer der Herr dieses Landes ist. Aber sie zu provozieren, ist dumm und gefährlich.« In einem Interview für die Zeitung Zerkalo njedeli berichtete der Minister – so die NG – über Pläne, die »von einem Konsultanten des Präsidentensekretariats ausgearbeitet wurden und die Organisation von Provokationen gegen die Schwarzmeerflotte vorsehen«. Luzenko warnt die Umgebung des Präsidenten mit dem Hinweis, daß provozierte Skandale außer Kontrolle geraten könnten.

Die aus dem Umfeld Juschtschenkos in die Welt gesetzte Behauptung, Rußland wolle Sewastopol annektieren, um seine dortige Marinebasis nicht zu verlieren, hat der russische Vizepremier Iwanow entschieden als »Propaganda aus dem Kalten Krieg« zurückgewiesen. Der weitere Aufenthalt der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol hänge nach Ablauf des geltenden Vertrages von der Position der Regierung in Kiew ab, erklärte er in einem BBC-Interview und fügte hinzu, daß er sich nach 2017 auch einen anderen Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte vorstellen könne, wenn die ukrainische Führung den Pachtvertrag nicht verlängert.

An einer Verlängerung dringend interessiert sind die auf der Krim lebenden Russen, wie Lindner in den oben zitierten ukraine-analysen schreibt. Sie »betrachten die Schwarzmeerflotte als wichtigen Stabilitätsfaktor und sammelten bereits im Mai 2008 mehr als eine Million Unterschriften, mit denen sie für den Verbleib der Flotte über 2017 hinaus votierten. Solange die Flotte vor Anker liege, seien ihre Rechte geschützt.«

Motive für Juschtschenkos Politk

Es stellt sich die Frage nach den Beweggründen für die provokatorische Politik des amtierenden ukrainischen Präsidenten. Leonid Gratsch sieht diese in seinem Interview für die Chicago Tribune in folgendem: »Der Konflikt auf der Krim, der zum Prolog für Unruhen in der Ukraine werden kann, ist ausschließlich von Vorteil für die US-Administration und ihre Anhänger unter den Machthabenden in der Ukraine. Bei einer normalen Entwicklung haben sie selbst theoretisch keine Chance, das Land in die NATO zu zerren.« Das ist sicher ein wichtiger Gesichtspunkt.

Wenn man in die Überlegungen einbezieht, daß Juschtschenko nicht nur die Krim und Rußland provoziert, sondern auch seine orange Wegbegleiterin Julia Timoschenko sowie das Parlament der Ukraine durch dessen abermalige Auflösung, so scheint ein weiterer Aspekt hinzuzukommen. Im nächsten Jahr läuft die reguläre Amtszeit Juschtschenkos als Präsident der Ukraine ab. Bei den anstehenden Neuwahlen hat er jedoch nach Meinung der meisten Experten praktisch keine Chance, sich gegen seine wahrscheinlichen Konkurrenten Timoschenko und Viktor Janukowitsch durchzusetzen, hat seine Popularität doch einen absoluten Tiefpunkt erreicht. Die liegt gegenwärtig bei vier bis fünf Prozent. Ist da der Gedanke so abwegig, daß Juschtschenko und seine Ziehväter in Washington mit dem Gedanken spielen könnten, durch die Provokation von Unruhen Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Wahlen auszusetzen und eine Präsidialdiktatur Jusch­tschenkos zu errichten?

Die Krimtataren

Zusätzlichen Sprengstoff enthält der Krisenherd Krim durch Konflikte zwischen der Bevölkerungsmehrheit und den Krimtataren. Den tiefsten Hintergrund dafür bilden die unerträglichen Lebensbedingungen für die meisten Krimtataren. Etwa 250000 sind aus Mittelasien zurückgekehrt. Dies fiel in die Zeit der Zerschlagung der Sowjetunion sowie die folgenden Jahre. Wie in allen Nachfolgerepubliken der UdSSR bedeutete der Umbruch auch auf der Krim für die Masse der Bevölkerung den Absturz in tiefes soziales Elend. Unter diesen Bedingungen wurden die Ankömmlinge nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen. Große soziale Unsicherheit herrscht nach wie vor. Im Ergebnis vegetieren immer noch viele Krimtataren in Behelfsunterkünften. Die Arbeitslosigkeit soll bis zu 70 Prozent betragen. Soziale Not bildet aber häufig den Nährboden für religiöse und nationale Konflikte.

Im Unterschied zu den orthodox-christlichen Russen und Ukrainern sind die Krimtataren Muslime. Nach 1991 hat auf der Krim eine stürmische Neubelebung der Orthodoxie stattgefunden. Die orthodoxen Symbole haben sich rasch über die Halbinsel ausgebreitet, und das auch bis in die unmittelbare Nähe muslimischer heiliger Stätten. Im Jahr 2000 hat dies zu einem scharfen Konflikt geführt. Damals stürzten Krimtataren christliche Verehrungskreuze um, die von der Ukrainischen Orthodoxen Kirche im Verein mit dem Moskauer Patriarchat anläßlich der 2000-Jahr-Feier von Christi Geburt in verschiedenen Gegenden der Krim errichtet worden waren, darunter auch an solchen Orten, die für die Krimtataren von ganz besonderer religiöser und nationaler Symbolik sind.

Die muslimischen Gemeinden werden gegenüber den orthodoxen benachteiligt – wie aus einem Beitrag von Viktor Yelinski in Ost-West. Europäische Perspektiven. Zeitschrift für Mittel- und Osteuropa hervorgeht. Bis heute können sie nicht in die erhalten gebliebenen Moscheen zurückkehren. Allerdings wurden etwa 70 neue Gebetshäuser errichtet – meist mit Geldern aus der Türkei, aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie der Diaspora. Die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland bewirkt natürlich Einfluß seitens von dort kommender Missionare. Und der dürfte kaum auf das friedliche Miteinander der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften gerichtet sein.

Vor diesem Hintergrund sind die krimtatarischen Führer – so Yelinski – »überaus empfänglich für die Bekundungen eines religiösen Extremismus und nehmen mit den Ideen eines politischen Islam aus den Staaten des Nahen Ostens spürbaren Einfluß auf die muslimischen Gemeinden der Halbinsel«. Das findet auch in extremen politischen Positionen seinen Niederschlag. Dazu gehört die Behauptung, die Krimtataren seien das indigene Volk der Krim, Russen und Ukrainer dagegen Eroberer. Als Ziel verkünden die krimtatarischen Extremisten eine »Nationale Krimtatarische Republik«. Das schürt Unruhe unter der Mehrheitsbevölkerung der Halbinsel und fördert seinerseits russischen und ukrainischen Nationalismus. Dieser sich gegenseitig hochschaukelnde Extremismus kann jedoch nur zum Schaden aller auf der Krim lebenden Ethnien sein.

Alles in allem braut sich im Rahmen der geostrategischen Konfrontation zwischen den USA und ihrem NATO-Gefolge einerseits und Rußland andererseits auf der Krim ein hochexplosives Konfliktgemisch zusammen, das die ganze Region in Brand stecken kann, wenn nicht den Brandstiftern in den Arm gefallen wird und schon aufflammende Brandherde rechtzeitig gelöscht werden.

* Aus: junge Welt, 1. November 2008


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