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Ärztezank am ukrainischen Krankenbett

18 Kandidaten bewerben sich ums Präsidentenamt, nur zwei haben derzeit eine Chance

Von Manfred Schünemann *

Die Zentrale Wahlkommission in Kiew hat die Kandidatenliste für die Präsidentenwahl im Januar bestätigt. Damit begann die entscheidende Phase des Wahlkampfes.

Registriert wurden 18 Kandidaten, von denen die meisten schon seit Jahren das politische Leben in der Ukraine prägen und zum wiederholten Mal bei Wahlen antreten. Allerdings hat der Großteil kaum eine Chance, mehr als zwei bis drei Prozent der Wählerstimmen zu gewinnen. Sie sind nicht mehr als »Zählkandidaten«, die das Wählerpotenzial aufsplittern und eine Entscheidung bereits im ersten Wahlgang verhindern.

Auch Präsident Viktor Juschtschenko, der sich nach langem Zögern zu einer neuerlichen Kandidatur entschlossen hat, wird in Meinungsumfragen keine Chance eingeräumt, auch nur in die Stichwahl zu kommen. Seine Umfragewerte unterscheiden sich kaum von denen des Parlamentspräsidenten Wolodymir Litwin, des KPU-Vorsitzenden Petro Simonenko und des früheren Zentralbankchefs Serhej Tigipko, die sich zwischen 2,8 und 4,2 Prozent bewegen. Dem früheren Außenminister und Parlamentspräsidenten Arseni Jazenjuk, der zunächst von Juschtschenko gefördert wurde und der im Westen lange Zeit als Hoffnungsträger galt, werden ebenfalls nur etwa 7 Prozent vorausgesagt.

Weit vor allen Mitbewerbern liegen derzeit der Kandidat der Partei der Regionen (PdR), der größten Oppositionspartei, Viktor Janukowitsch, mit knapp 25 Prozent und Ministerpräsidentin Julia Timoschenko mit etwa 17 Prozent. Die beiden werden nach allen Prognosen in die Stichwahl kommen, die für den 7. Februar vorgesehen ist.

Hauptthemen des Wahlkampfes sind die wirtschaftliche und soziale Lage, die Wege zur Überwindung der Folgen der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise, die Bemühungen um innenpolitische Stabilität, die Bekämpfung der allgegenwärtigen Korruption, des Ämtermissbrauchs und der Vetternwirtschaft. Gerade auf letzteren Feldern ist die Enttäuschung in der Bevölkerung riesig. Seit dem Machtantritt Juschtschenkos nach der »Orangen-Revolution« vor fünf Jahren ist das Vertrauen in die Politik und deren Akteure stetig gesunken. Zu bezweifeln ist, dass die Präsidentenwahl den lähmenden Machtkämpfen zwischen den politischen Gruppierungen und ihren Führern ein Ende setzt. Die politischen Auseinandersetzungen sind weit von sachlicher Diskussion und der Suche nach Erfolg versprechenden Auswegen aus der ukrainischen Dauerkrise entfernt.

Die Machtkämpfe zwischen dem Präsidenten und der Ministerpräsidentin, zwischen Parlament und Regierung und zwischen Opposition und Regierungsparteien dauern fort. Selbst die sogenannte Schweinegrippe, die in der Ukraine schon über 360 Todesopfer gefordert haben soll, wird genutzt, um dem politischen Gegner Versagen vorzuwerfen. So blockierte der Präsident mit seinem Veto die Bereitstellung zusätzlicher Finanzmittel für ein nationales Impfprogramm und warf der Regierung gleichzeitig Unvermögen vor. Nichts bleibt unversucht, die verheerenden Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf die ukrainische Wirtschaft, die in diesem Jahr um rund 8 Prozent schrumpfen wird, allein der Regierung anzulasten. Um deren Handlungsunfähigkeit »nachzuweisen«, blockiert die Janukowitsch-Partei in der Werchowna Rada gemeinsam mit Teilen des Präsidentenlagers die Verabschiedung des Etats für 2010 und droht mit einem Misstrauensantrag. Das national-konservative Lager um Präsident Juschtschenko unterstützt dieses Vorgehen und kritisiert vor allem die Regierungsbemühungen, die ukrainisch-russischen Wirtschafts-beziehungen, und insbesondere die Erdgaslieferungen in und durch die Ukraine, dauerhaft vertraglich zu sichern. Immer wieder stellt Juschtschenko Verhandlungsergebnisse in Frage und wirft Timoschenko die »Preisgabe ukrainischer Interessen« und »Geheimbündelei« mit Wladimir Putin vor.

Auffällig ist, dass außer den Kommunisten im Wahlkampf niemand einen eventuellen NATO-Beitritt der Ukraine erwähnt. Polarisierungen sollen offenbar vermieden werden. Zugleich warten die NATO-Anhänger wohl auf Signale aus Washington, was Fristen und Bedingungen einer Einbindung in den Militärpakt betrifft.

Anders ist es mit der »europäischen Orientierung«, die bei etwa zwei Dritteln der Bevölkerung ebenso wie bei den politischen Hauptkräften Zustimmung findet. Streitpunkt bleibt das Verhältnis zu Russland. Das Juschtschenko-Lager setzt nach wie vor auf strikte Abgrenzung und nimmt eine weitere Verschlechterung der ukrainisch-russischen Beziehungen in Kauf. Janukowitsch und auch Timoschenko wollen dagegen die Annäherung an den Westen fortsetzen, ohne das ukrainisch-russische Verhältnis zu beschädigen. Von russischer Seite wird diese Haltung offensichtlich nicht nur toleriert, sondern mit Zugeständnissen bei den Erdgasverhandlungen auch honoriert, ohne dass ein Kandidat offen favorisiert würde.

Der Ausgang der Wahl ist derzeit nicht vorherzusagen. Neben der allgemeinen Stimmungslage wird entscheidend sein, welcher der beiden Kandidaten in der zweiten Runde die Wähler der »Zählkandidaten« mobilisieren kann. Noch ist unklar, für wen sich die Anhänger der Juschtschenko-Partei »Unsere Ukraine«, die Wähler der Linken und die National-Patrioten in der Stichwahl entscheiden. Dazu kommen die Unwägbarkeiten der Wahlbeeinflussung durch Medienkampagnen, die bereits jetzt auf Hochtouren laufen.

* Aus: Neues Deutschland, 30. November 2009


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