Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ukraine – Regierung ohne Koalition

Viktor Janukowitsch an der Spitze der Regierung - Die politische Krise ist aber noch nicht vorbei

Von Tatjana Stanowaja, Moskau *

In der Ukraine ist eine neue Regierung mit Viktor Janukowitsch an der Spitze gebildet worden. Mehrere Beobachter erklärten bereits, dass die Krise im Lande damit beigelegt und die neue Kräftekonstellation stabil genug ist. Aber das stimmt ganz und gar nicht: Obwohl das Bündnis zwischen (Präsident) Viktor Juschtschenko und Viktor Janukowitsch die wirksamste aller möglichen Varianten ist, birgt es zugleich ein großes Risiko einer trägen, aber beständigen Krise im politischen Leben der Ukraine in sich. Das Hauptproblem besteht heute darin, dass sich das neue Kabinett nicht auf eine Regierungskoalition stützt. Diese soll erst im September gebildet werden, was in Wirklichkeit mehr als nur eine einfache Formalität ist. Mehr noch: Selbst nach der Bildung kann diese Koalition äußerst flexibel werden - von einer Regierungs- bis hin zu einer Oppositionskoalition.

Offiziell existiert im Moment die so genannte Anti-Krisen-Koalition unter Teilnahme der Partei der Regionen, der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei. Diese Koalition war es, die die Kandidatur Viktor Janukowitschs für das Amt des Ministerpräsidenten nominiert hatte. Zugleich gibt es ein Memorandum über die Bildung einer "umfassenden Koalition", das von den Führern der Partei der Regionen und von Unsere Ukraine unterzeichnet ist. Dieses Dokument ist jedoch eine Absichtserklärung und kein Koalitionsabkommen.

Das Problem besteht darin, dass Unsere Ukraine nicht der Koalition angehören will, die den Erzfeind der Orange Revolution zum Ministerpräsidenten nominiert hat und an der sich die Kommunistische Partei der Ukraine beteiligt. Dabei erklärt sich Unsere Ukraine zu Kompromissen bereit, vorausgesetzt, dass die Kommunistische Partei aus der Koalition aussteigt und der Einfluss des Präsidentenblocks auf die Politik der Regierung und die Personalpolitik zunimmt. Nach allem zu urteilen wird sich der Präsidentenblock auch damit abfinden müssen, dass Janukowitsch Regierungschef wurde. Aber um dieses Zugeständnis wird noch weiter gefeilscht. Indes ist Unsere Ukraine im Grunde genommen in mehr oder weniger verhandlungsfähige "Pragmatiker" und in "Idealisten" gespalten. Die Letzteren können jederzeit zur Opposition überwechseln.

Nicht von ungefähr hatten für Janukowitschs Kandidatur nur 30 der 80 Abgeordneten der Fraktion Unsere Ukraine gestimmt. Zudem erklärte die zum Präsidentenblock gehörende Christlich-Demokratische Union am 8. August, dass ihre Abgeordneten auch in die umfassende Koalition unter Teilnahme der Kommunisten und Sozialisten nicht einsteigen werden (Die Sozialisten werden in der Ukraine als "Verräter" bezeichnet, weil sie die "orange" Koalition zerstört haben.) Der Führer der Ukrainischen Volkspartei, Juri Kostenko, erklärte, dass seine Partei in die Opposition gehe, und versprach zum September einen neuen Maidan (Demonstrationen auf dem Maidan-Platz in Kiew) als Protest gegen die Revanche von Vertretern des früheren Regimes, die sich im Kabinett durchgesetzt haben.

Aber auch die "Pragmatiker" sind mit der gegenwärtigen Lage alles andere als zufrieden, weil das Kräftegleichgewicht nach ihrer Meinung zugunsten der Partei der Regionen verändert ist. Es geht unter anderem um das Niveau der Repräsentanz von Unsere Ukraine im Kabinett, in dem alle Vizeregierungschefs wie auch der Wirtschaftsblock von der Partei der Regionen "monopolisiert" sind. Der Präsidentenblock ist hauptsächlich für Kultur und Soziales zuständig. Dieses Kräfteverhältnis resultiert aus dem zu hohen Preis, den Viktor Juschtschenko zahlen musste, damit seine Falken - Verteidigungsminister Anatoli Grizenko und Außenminister Boris Tarassjuk - weiter in ihren Ämtern bleiben. Nach Ansicht der Partei der Regionen sollen diese Posten zur Quote von Unsere Ukraine gehören. Dagegen behauptet Unsere Ukraine, dass diese Ämter auf der Präsidentenquote stehen und nicht im Rahmen der Koalition zu besetzen sind. Mehr noch. Juschtschenko hatte den richtigen Augenblick für die Ernennung von Pjotr Poroschenko zum Vizeregierungschef verpasst. Poroschenko galt als Gegengewicht zur Partei der Regionen in der Regierungsspitze.

Das kann nur eines bedeuten: Unsere Ukraine wird bestrebt sein, ihre einstigen Positionen zurückzugewinnen und der Partei der Regionen bei der Bildung einer neuen Koalition im Kabinett den Spielraum zu nehmen. Viktor Juschtschenko wird seinerseits darauf hinarbeiten, die Loyalität seiner Verbündeten zurückzugewinnen. Das wird ihn dazu zwingen, Janukowitsch unter Druck zu setzen. Das ist besonders unter Berücksichtigung dessen wichtig, dass der Präsident als Staatschef die eigene Stütze in der Werchowna Rada einbüßt und zu einer Geisel der Beziehungen zu Viktor Janukowitsch wird. Die Unzufriedenheit des "orange" Teils der Exekutivmacht wird in nächster Zeit einer der wichtigsten Faktoren der politischen Instabilität in der Ukraine bleiben.

Folglich wird auch das Risiko zunehmender Spannungen innerhalb der Regierung selbst größer, die sich bereits jetzt schon faktisch in zwei Lager spaltet. Justizminister Roman Swarytsch erklärte, dass im Kabinett die Parteigruppe Unsere Ukraine gebildet wird. Das ist offenkundig ein Versuch, den Einfluss von Unsere Ukraine im Kabinett Janukowitschs zu "institutionalisieren", was aber den Apparatinteressen des Ministerpräsidenten zuwiderlaufen würde.

Somit reift einerseits das Risiko einer Polarisierung innerhalb des Kabinetts - zwischen den "Orange" und den "Regionalen" - heran. Andererseits wird sich die Regierung gezwungen sehen, sich auf die "bewegliche" Parlamentskoalition zu stützen. Die Beweglichkeit wird in diesem Fall darin bestehen, dass es jetzt in der Werchowna Rada zwei Formen der Parlamentsmehrheit geben kann: Unter Teilnahme von Unsere Ukraine in Form einer umfassenden Koalition und ohne Unsere Ukraine unter Teilnahme der Partei der Regionen, der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei der Ukraine (Anti-Krisen-Koalition). Das Problem besteht darin, dass die erste Koalition das Ruder übernimmt und die zweite in Opposition geht, wenngleich die Grenze zwischen ihnen sehr verschwommen ist. Viktor Janukowitsch, der von der oppositionellen Anti-Krisen-Koalition nominiert, aber von einer umfassenden Koalition bestätigt wurde, kann Juschtschenko immer damit erpressen, dass eine Anti-Krisen-Mehrheit in der Opposition vorhanden ist. Diese Situation wird anhalten, solange die Kommunistische Partei Janukowitsch unterstützt. Gerade die Kommunisten sind es, die der Partei der Regionen eine Mehrheit auch ohne Unsere Ukraine sichern. Das festigt Janukowitschs Positionen im politischen Feilschen mit Juschtschenko. Ihrerseits wird Unsere Ukraine danach streben, die Kommunistische Partei möglichst schnell aus der Koalition herauszupressen. Man muss zugeben, dass die Kommunisten selbst diese Koalition aus Protest gegen die "volksfeindliche Politik" der Regierung verlassen könnten. (So ist im Wortlaut des Koalitionsabkommens der Punkt über das Verbot für den Verkauf von Grund und Boden gestrichen.) Dann werden Unsere Ukraine und die Partei der Regionen mit erneuter Kraft nach einem Gleichgewicht suchen müssen. Mit anderen Worten, von einer Beilegung der Krise in der Ukraine ist noch keine Rede. Diese Krise erlangte nur eine neue Qualität und neue Eigenschaften (langwierig und träge). Das Epizentrum der Krise hat sich vom Parlament in die Exekutivmacht verschoben.

* Die Autorin ist Leiterin des Analytischen Departements des Zentrums für politische Technologien

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 11. August 2006; http://de.rian.ru


Zurück zur Ukraine-Seite

Zurück zur Homepage