Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Orangen in Kiew reifen langsam

Die Wechseleuphorie ist in der Ukraine längst Ernüchterung gewichen

Von Manfred Schünemann*

Am 24. August begeht die Ukraine ihren Unabhängigkeitstag. Für einen Tag wird der Maidan Nezaleshnosti (Platz der Unabhängigkeit) wieder in das Zentrum des öffentlichen Interesses rücken und vielleicht auch die politischen Freunde der »orangenen Revolution« im Westen daran erinnern, mit welchen Verheißungen die Wende in der Ukraine verbunden war.

Inzwischen ist der politische Alltag wieder eingekehrt, und Bevölkerung wie Führung müssen erkennen, dass die »Früchte der Revolution« wesentlich langsamer reifen als versprochen. Allgemeine Ernüchterung und aufkommende Enttäuschung kennzeichnen die Stimmung in der Ukraine an diesem ersten Unabhängigkeitstag nach dem politischen Machtwechsel. Grund dafür sind nicht in erster Linie mangelnde Aktivitäten der neuen Führung – der Elan besonders von Ministerpräsidentin Julia Timoschenko ist ungebrochen –, sondern eher die Erkenntnis, dass sich die inneren und äußeren Rahmenbedingungen nicht von heute auf morgen verändern lassen.

Zwar wurden mit der Erhöhung der Renten und Mindestlöhne sowie mit den Sonderzahlungen an Kriegsveteranen einige der Versprechen erfüllt und der soziale Frieden im Lande zunächst stabilisiert. Für die Lösung der Hauptprobleme – Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungskraft, Beseitigung von Korruption und Vetternwirtschaft, Demokratisierung der Entscheidungs- und Verwaltungsstrukturen aller Ebenen, das Verhältnis zu Russland und zum Westen – fehlen jedoch nach wie vor klare Konzepte und ein konsequentes Handeln der neuen politischen Führung. Ernüchterung ruft vor allem hervor, dass die Administration wie in der Vergangenheit mit einer Unzahl von Präsidentenerlassen und Regierungsdekreten arbeitet, die sich zum Teil widersprechen bzw. deren Umsetzung durch Kompetenzgerangel blockiert wird.

Besonders negative Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung hat beispielsweise ein Regierungsbeschluss über die Abschaffung der so genannten Sonderwirtschaftszonen vom März. Diese Maßnahme zielte auf die Beseitigung von Steuerschlupflöchern und Schwarzgeldquellen. Ergebnis sind jedoch eine große Verunsicherung aller Investoren, ein Rückgang der Wirtschaftstätigkeit in diesen Gebieten und der Abbau von Arbeitsplätzen. Nicht zuletzt der harsche Protest polnischer und italienischer Investoren veranlasste Präsident Juschtschenko sehr rasch, Vizepremier Kinach anzuweisen, bis zum 1. September eine umfassende Einschätzung der Tätigkeit aller elf Sonderwirtschaftszonen und Vorschläge für die Entschädigung »ehrlich« arbeitender Investoren vorzulegen. Insgesamt hat sich das BIP-Wachstum von etwa 14 Prozent im Vorjahr auf rund fünf Prozent im ersten Halbjahr verringert. Die Inflationsrate dagegen erhöhte sich von 4,4 auf 6,7 Prozent. Besonders spürbar stiegen die Lebensmittelpreise (8,4%), Wohnungsmieten (18,8%) und Verkehrstarife (14,9%). Die sozialen Wohltaten der neuen Regierung sind dadurch längst eliminiert.

Man gewinnt in der Ukraine den Eindruck, dass sich der Regierungswechsel weitgehend auf einen Austausch der Führungskräfte beschränkt, der eigentliche politische Wandel aber noch aussteht.

Auch auf außenpolitischem Feld herrscht Ernüchterung vor. Nicht nur die zögerliche Haltung der EU mit Blick auf eine Beitrittsperspektive Kiews und das Scheitern der EU-Verfassung ließen die euphorische Stimmung beim Machtwechsel in eine eher trotzig-pragmatische Haltung umschlagen. Vor allem die wirtschaftlichen Zwänge, die Abhängigkeiten vom russischen Energiemarkt und das Ausbleiben zusätzlicher Finanzhilfen aus dem Westen bestimmen heute das Vorgehen. So wird immer wieder medienwirksam die »europäische Orientierung« beteuert und betont, die Ukraine werde auch ohne klare Beitrittsperspektive alle Kriterien für eine Integration in die EU erfüllen. Zugleich versichert man Moskau, dass es keine Beschränkungen für die Wirtschaftstätigkeit des russischen Kapitals in der Ukraine geben werde. Beispiel dafür ist das EU-Importverbot für russisches Geflügel, das von der Ukraine zunächst übernommen, aber schon nach wenigen Tagen nach russischen Interventionen wieder aufgehoben wurde.

Widersprüchlich bleibt die Haltung zur Mitarbeit im Gemeinsamen Wirtschaftsraum (GRW) mit Russland, Kasachstan und Belarus. Noch Anfang August wurde nach einer Verhandlungsrunde in Minsk versichert, die Ukraine sei bereit, 40 der 93 Rahmenabkommen ohne weitere Änderungen zu unterzeichnen. Dieser Tage drohte Wirtschaftsminister Terechin jedoch, die Ukraine werde auf dem bevorstehenden Spitzentreffen den endgültigen Verzicht auf eine Mitgliedschaft im GWR erklären. Hauptgrund dafür sei, dass Russland auf übernationale Kompetenzen der Lenkungsorgane beharre.

Während die politischen Beziehungen zu Moskau stagnieren, werden der Ausbau der Beziehungen zur NATO und die Anpassung der militärischen Strukturen an NATO-Standards forciert. An der eindeutigen Westorientierung der Ukraine gibt es also seit dem Machtantritt Juschtschenkos keinerlei Abstriche. Gelegentliche verbale Bekenntnisse zum »strategischen Partner« Russland sind eher taktischen Überlegungen geschuldet und zielen auf das Russland freundliche Wählerpotenzial bei den im Frühjahr anstehenden Parlamentswahlen.

* Aus: Neues Deutschland, 24. August 2005


Zurück zur Ukraine-Seite

Zurück zur Homepage