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Ukrainische Versprechen

Ein Kommentar von Karl Grobe*

Die ukrainische Revolution ist vom Zeltlager ins Büro des neuen Präsidenten umgezogen und hat aufgehört, Revolution zu sein. Viktor Juschtschenko sucht - was im allgemein demokratischen Sinn richtig und unerlässlich ist - parlamentarische Verbündete und Partner für die Regierung, die er zu berufen hat. Die kommen aus dem Umfeld der Oligarchen oder sind selber Tycoons. Doch deren Macht zu brechen, gehörte zu den Zielen der Orange-Bewegung, mindestens des "Fußvolks" auf der Pracht- und Hauptstraße Kreschtschatik.

Es bestätigt sich die Erfahrung mit anderen Umwälzungen: Revolutionäre bekommen stets eine andere Revolution als die, die sie wollten. Diese, die ukrainische, hat die Ablösung bisher beherrschender Personen von der Macht bewirkt. Sie hat einen Wahlschwindel beendet. Doch die Machtstruktur hat sie nicht verändert, die Verhältnisse nicht umgestürzt; und indem sie ihre Dynamik auf die Bestätigung des dann fair Gewählten lenkte, leitete sie die Bewegung über in den Bereich, in dem man auf andere Weise Politik hergestellt - den Kuhhandel.

Nicht wenige Industriefürsten, die bisher auf der anderen Seite standen, sind ins Lager Juschtschenkos übergewechselt. Einige, für die sich unter rechtsstaatlichen Verhältnissen dieJustiz zu interessieren hat, zogen die wenigstens befristete Auswanderung vor. Die meisten aber sind sich sicher, dass der Neue, der so neu ja auch nicht ist, ihnen das lassen wird, was sie in postsowjetischer Art in ihren Besitz gebracht haben. Dafür gibt es schöne Begriffe wie "nationale Aussöhnung" und "Zusammenarbeit fürs Gemeinwohl". Wohl auch: "Amnestie".

Nein, es handelt sich nicht um Verrat. Es geht um den Preis für den Transfer der politischen Macht. Die Parteien-Allianz hinter Juschtschenko hat keine parlamentarische Mehrheit. Die Verbündeten können sich, wenn sie verbündet bleiben, auf rund 150 von 450 Abgeordneten der Werchowna Rada stützen (vielleicht nicht einmal verlassen), müssen Unterstützung anwerben und dafür Kompromisspreise zahlen. Doch das geschieht nicht durch die Mitwirkung "der Straße".

Der neue Präsident kann nicht umhin, die Führer - zum Teil auch Besitzer - jener Parteien zu belohnen, die sich für seine Wahl engagiert haben: Julia Timoschenko, die in jenen Wochen eher polarisiert und vorwärts getrieben als auf Bündnisse am Tag danach spekuliert hat; den Sozialisten Oleksandr Moroz; den Chef der Industriellen- und Unternehmerpartei, Anatoli Kinach; den Fernsehboss und Großunternehmer Petro Poroschenko. Aus diesem Quartett dürfte der nächste Regierungschef kommen.

Die Donbass-Bosse wie der dort bisher allmächtige Rinat Achmetow und andere Clan-Chefs aus anderen Regionen sind für die "nationale Aussöhnung" zu haben - wenn der Preis stimmt. Sie gebieten über Rada-Fraktionen, gegen die nichts geht; sie haben populistisch geführten Anhang, und das sind nicht bloß tumbe, manipulierte Massen, sondern durchaus bewusste und besorgte Wähler, die zu überzeugen oder mindestens ruhig zu stellen bisher noch die Mithilfe der Oligarchen zwingend erfordert.

Das sind einige der Rahmenbedingungen, unter denen man den Kompromiss genannten Kuhhandel abwickeln wird. Dabei spielt die Massenbewegung keine besondere Rolle mehr. Aber sie ist nicht vergangen, geschweige denn vergessen. Sie hat demokratische Forderungen in die Tagesordnung geschrieben. Sie wollte mehr als den bloßen Wechsel des Geschäftsträgers. Juschtschenko hat das mit dem Satz ausgedrückt, erstmals nach 14 Jahren Unabhängigkeit sei die Ukraine nun auch frei.

Man wird sehen. Die Rahmenbedingungen machen es dem neuen Präsidenten fast unmöglich, das in diesem Satz enthaltene Versprechen einzulösen, selbst wenn er ganz fest dazu entschlossen sollte - nicht sofort, aber spätestens nach den in zwei Jahren fälligen Parlamentswahlen. Der negative Held der Orange-Bewegung, Viktor Janukowitsch, schrumpft bis dahin wohl auf das Maß einer historischen Figur und ist also keine Alternative mehr, was auch für Leonid Kutschma, den bisherigen Staatschef, gelten dürfte. Freiheit, wie sie der Nachfolger erwähnte, besteht jedoch in mehr als im Verschwinden Kompromittierter.

Die Volksbewegung hat eine Übergangssituation geschaffen. Das ist viel. Was sie daraus macht, hängt von ihrer Fähigkeit ab, aus sich heraus die politische Kraft zu einer tatsächlichen Veränderung der Verhältnisse zu entwickeln, die über den Personalwechsel hinaus geht. Der Anfang war und bleibt ermutigend. Das Ziel aber ist längst nicht erreicht.

Aus: Frankfurter Rundschau, 12. Januar 2005
(Mit freundlicher Genehmigung durch den Autor)



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