Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Ukraine, Putin und der Westen

Kommentare und ein Hintergrundartikel über ein "gespaltenes Land"

Im Folgenden wollen wir mit zwei Kommentaren und einem Hintergrundartikel zu den ukrainischen Wirren etwas zur Aufklärung beitragen, wohl wissend, dass die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in der Ukraine noch tiefere und komplexere Ursachen haben, als sie hier in tagespolitischen Kommentaren analysiert werden können.
Die beiden Autoren sind ausgewiesene Kenner der osteuropäischen Politszene. Karl Grobe ist Redakteur der Frankfurter Rundschau, Kai Ehlers ist freier Journalist und Publizist und referiert u.a. auf dem 11. Friedenspolitischen Ratschlag (4./5. Dezember 2004) in Kassel.


Ukraine - schon wieder Putin?

Von Kai Ehlers

Die Wahl in der Ukraine brachte nicht den Mann ins Präsidentenamt, den der Westen und die west-orientierte Opposition erwartet hatte: Statt des Liberalen Juschtschenko rief die zentrale Wahlkommission den konservativen Janukowitsch zum Wahlsieger aus, den Wladimir Putin zuvor mit zwei persönlichen Besuchen in Kiew als seinen Wunschkandidaten unterstützt hatte und dem er noch vor der amtlichen Bestätigung zu seinem Wahlsieg gratulierte. Statistische Hochrechnungen hatten vor der Wahl eine klare Mehrheit für Juschtschenko erwarten lassen, um so weniger konnten die Parteigänger Juschtschjenkos dessen unerwartete Niederlage akzeptieren. Sie klagen Wahlfälschung an und erklären, die Straße erst verlassen zu wollen, wenn ihr Kandidat als Präsident vereidigt worden ist. In diesen Vorwürfen werden sie durch die Bush-Regierung, die Europäischen Union wie durch Wahlbeobachter der OSZE bestärkt, die Russland, insbesondere Wladimir Putin, massive Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates vorwerfen, mit der er eine demokratische Entwicklung in der Ukraine und einen davon ausgehenden demokratisierenden Dominoeffekt in Weißrussland und in kaukasischen Staaten verhindern wolle. Wieder einmal steht der "Neo-Imperialist" Putin am Pranger - und mit ihm pikanterweise zugleich auch sein Freund Gerhard Schröder, der ihn wenige Tagen zuvor in einer Talkshow zum "lupenreinen Demokraten" erklärt hatte.

Man muss kein Mitglied der putin-nahen Partei "Einheitliches Russland" und kein rechter SPD-ler sein, um in diesen Bewertungen dasselbe Muster zu erkennen, mit dem eine Gruppe von "internationalen Persönlichkeiten" nach den Ereignissen von Beslan auf Initiative US-amerikanischer Konservativer in einem "Offenen Brief" an die NATO und EU eine Korrektur der bisherigen kooperativen Russlandpolitik forderte, und es muss darauf im Wesentlichen dieselbe Antwort gegeben werden: Ja, es wurde manipuliert, allerdings von beiden Seiten, so wie üblicherweise in den nachsowjetischen Staaten manipuliert wird, wo bisher keine formaldemokratischen Wahlabläufe eingeübt sind, sondern nach patriarchalen Vorgaben gewählt wird. Aber müssen sich gerade die USA zum Kritiker aufwerfen, nachdem die Welt soeben ihre chaotischen Wahlverfahren mit ansehen musste? Und weiter: Ja, Putin hat sich eingemischt, Russland hat Interesse an einer autoritären Stabilisierung der Ukraine und mit dem Eingreifen wird die Entwicklung gestoppt, zumindest behindert, die gemeinhin als Demokratisierung bezeichnet wird.

Aber was ist das für eine Demokratisierung, die die Ukraine seit dem Ende der Sowjetunion Schritt für Schritt an die NATO, an Europa bindet, sie aber zugleich von einer Mitgliedschaft einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ausschließt? Faktisch wurde die Ukraine zum Armenhaus, zum Frontstaat, zum Aufmarschgebiet zwischen Russland und der "einzig verbliebenen Weltmacht" USA, die seit dem Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan systematisch daran arbeiten, Russland auf einen Kernbestand zu reduzieren, um die öl-haltigen "Filetstücke", die Gas- und sonstigen Ressourcen Euroasiens neu verteilen zu können. Wer es nicht glaubt, lese Zbigniew Brzezinksis "Einzige Weltmacht" und vergleichbare Äußerungen von konservativen US-Strategen, die gerade die Abspaltung der Ukraine aus dem ehemaligen russischen Verband als besonders dringlich bezeichnen. Die EU-Strategen, weniger offen, aber nicht weniger begehrlich, sprechen verschämt von der "strategischen Ellipse", die Objekt einer gezielten europäischen Sicherheitspolitik sein müsse. Diese "Ellipse" ziehen sie von Saudi-Arabien, dem Iran, Afghanistan über die kaspische Region, den Kaukasus bis nach Nord-Russland. Die Ukraine ist Teil davon. Wer auch dieses nicht glaubt, nehme sich die neuesten Veröffentlichungen der regierungsnahen Zeitschrift "Osteuropa" zur Hand, die soeben unter dem Titel "Europa unter Spannung -Energiepolitik zwischen Ost- und West" erschienen sind.

Ins Niemandsland zwischen NATO, EU und Russland gedrückt, ist die Ukraine zum politischen Spielball zwischen den Blöcken geworden. Der Ausgang der jetzigen Wahlen, wie sehr im Detail auch manipuliert worden sein mag, ist daher nicht in erster Linie Ergebnis von äußeren Eingriffen, weder russischer, noch westlicher, auch nicht von Manipulationen, sondern mit seinem faktisch unentschiedenen Ergebnis authentischer Ausdruck dieser Situation: Die Ukraine ist ein geteiltes, ein gespaltenes Land, das zur Zeit nicht weiß, ob seine Zukunft in einer Wirtschaftsunion mit Russland liegt, die 2004 mit Aussicht auf eine Zollunion unter Einschluss von Kasachstan, Weißrussland und Moldawien gebildet wurde, oder ob sie einen Mitgliedschaft in der EU anstreben soll, die jedoch in unerreichbarer Ferne liegt. Wladimir Putins Eintritt für seinen Wunschkandidaten Janukowitsch ist unter diesen Umständen nicht mehr und nicht weniger zu kritisieren als die politischen Aufmunterungen aus Washington, die finanziellen Zuwendungen für die liberale Opposition oder die Ausbildungsprogramme der NATO. Beides ist Ausdruck schlichter Machtpolitik, die auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wird.

Russlands langer Schatten

Von Karl Grobe

Die Ukraine hat im Schatten Russlands gewählt. Das ist ein Gemeinplatz, breiter als die Steppe, aber doch mit Grenzen. Denn die ukrainischen Wähler haben nicht "zwischen Russland und dem Westen" gewählt, sondern zwischen zwei Kandidaten, zwischen Ancien Régime und Reform, vielleicht zwischen Links und Rechts. Und wenn an dem Ergebnis manipuliert wurde - nur wenige bezweifeln das -, so geschah das im Interesse der alten Ordnung und ihrer Bürokraten.

Es ist klar, wen Russlands Präsident lieber an der ukrainischen Staatsspitze sieht. Wladimir Putin arbeitet nicht nur am starken Staat, an der Zentralisierung der Macht und der Miniaturisierung aller oppositionellen Regungen. Er will auch die Großmachtstellung Russlands herstellen oder wieder erringen. Deshalb hat er sich zweimal zu nicht eben verdeckter Wahlhilfe nach Kiew begeben. Der russische Schatten über der Ukraine ist vorhanden, und er ist lang.

Das ist kein Sonderfall. Die Moskauer Führung hält sich nicht an die Verpflichtungen zum Truppenabzug aus Georgien und Moldawien, bedrängt Georgien vielmehr durch ein taktisches Spiel mit den Separatisten in Abchasien und Südossetien. Sie richtet sich auf Militärstützpunkten in Zentralasien wieder häuslich ein, beinahe in Rufweite entsprechender Einrichtungen der USA, die im südlichen Hinterhof - in ehemaligen Sowjetrepubliken - ihre eigenen Großmachtinteressen verfolgen. Sie entwickelt an geltenden Abrüstungsverträgen vorbei neue Atomwaffen und Trägersysteme, weil die USA es längst auch tun. Und sie bringt das wirtschaftliche Potenzial, das in den Weiten des Landes fortbesteht, politisch in Stellung. Da geht es um Öl, Gas und Erze.

Die Zerschlagung des Jukos-Konzerns gehört dazu. Seine Bestandteile unter staatliche Kontrolle zu bringen bedeutet, ein ökonomisches Mittel in die Hand zu bekommen. Da ist die Staatsgewalt nicht wählerisch und beugt das Recht, sobald es dem politischen Willen nicht gehorchen will. Lieferverträge wird auch ein Staatsmonopol, wenn es denn entsteht, genau erfüllen; vom Verkauf der Rohstoffe hängen Russlands Deviseneinnahmen weitgehend ab. Verträge auszuhandeln darf aber nicht die Sache eigenwilliger, gar politisch ehrgeiziger Oligarchen oder gar ausländischer Teilhaber sein. Rohstoffe haben strategischen Charakter.

Da verzahnt sich die auswärtige mit der Innenpolitik. Der putinistische Staat kann sich, im Verständnis seiner Führer, nach außen hin nur dann als Großmacht glaubhaft darstellen, wenn er nicht von innerer Opposition geschwächt wird. Den Gedanken, dass gesellschaftliche Stärke gerade aus Demokratie wächst, dass die Kraft der Zivilgesellschaft den gesellschaftlichen Konsens herstellt, stabilisierend wirkt und die Handlungsfähigkeit der Gewählten vermehrt - den Gedanken können die Verfasser der herrschenden Meinung noch nicht denken. Er widerspricht ihrem unmittelbaren Interesse an der Machterhaltung.

Außenpolitik besteht großenteils darin, die Interessen der herrschenden Elite nach außen zu vertreten. Die Mittel dazu beziehen gerade autoritäre Eliten oft aus dem historischen Museum. Putin hat sich daraus bedient, die Staatssymbole und die Nationalhymne teils aus der zaristischen, teils aus der stalinistischen Vergangenheit entlehnt. Doch in beide Geschichtsperioden, wiewohl sie zu ausgewählten Teilen wieder verklärt werden, kehrt Russland nicht zurück. Das Gestrige ist Denkgewohnheit in der Vergangenheit lebender Randgruppen. Der Putinsche Staat ist nicht der Peters des Großen oder gar Stalins. Er ist der eines militärisch-industriell-bürokratischen Machtgefüges mit starker geheimdienstlicher Beimischung. Er existiert unabhängig vom Volk, in dem demokratische Hoffnungen weiterleben.

Die Nachbarn sehen im Streben nach russischer Großmacht andere Schatten der Vergangenheit. Sie haben diese Vergangenheit einige Jahrhunderte lang geteilt und sehnen sich nicht danach zurück. Dafür sprechen die Proteste in Kiew gegen den Vertreter des alten Establishments.

Aus: Frankfurter Rundschau, 23. November 2004

Gespaltenes Land

Von Karl Grobe

Einige hundert Busse mit Bergarbeitern aus dem Donez-Becken haben Reporter der Kyiv Post dieser Tage in der ukrainischen Hauptstadt gesichtet. Mit den Journalisten sprechen wollten die Kumpels zuerst nicht. Dann überlegte der eine oder andere es sich neu. Den Sieg "der Faschisten" wollten sie verhindern. Aber Sehnsucht nach der Sowjetunion hätten sie keinesfalls. Auch kein Heimweh nach Putins Russland. Patrioten seien sie.

Das Donez-Becken, kurz Donbass, war das industrielle Herz Russlands, seit der aus Wales stammende Unternehmer John Hughes dort 1872 das erste Eisenwerk in Betrieb nahm. Der Ort hieß dann, nach der russischen Aussprache seines Namens, Jusowka. 40 Jahre darauf kamen aus der Region drei Viertel der russischen Eisenerzeugung. Die Sowjetunion baute das Revier weiter aus und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf.

Der größere Teil fiel 1991 an die unabhängige Ukraine. Die übernahm nicht nur die Kohlengruben und die Industriebetriebe, sondern auch die sowjetischen Strukturen und die ganz überwiegend russischsprachige Bevölkerung. Aus den Weiten Russlands ist das Industrieproletariat und sind die technischen Kader zugewandert.

Auf Wanderungsbewegungen geht auch die Bevölkerungsstruktur des ukrainischen Südens und Ostens zurück. Dort waren es Bauern, welche die Steppen seit der Zeit Katharinas der Großen allmählich besiedelten, neben der einheimischen Bauernschaft und den Kosaken, die der Leibeigenschaft entgangen waren und allmählich weiter nach Osten verdrängt wurden. An die Schwarzmeerküste zogen Russen, in neue Hafenstädte wie Odessa und alte Handelsplätze. Deutsche, jüdische, griechische und rumänische Siedler durften dort wohnen, wurden angeworben zur ökonomischen Stärkung der Region. Der Landesteil, der auf den Wahl-Landkarten jetzt in Janukowitschs Blau eingefärbt war, hat eine eigene Geschichte.

Die Historie des Landes-Westens ist hingegen kaum russisch geprägt. Jahrhundertelang gehörte das Territorium zum polnisch-litauischen Staat. 1772 und 1793 wurde es zwischen Russland (unter Katharina) und Österreich-Ungarn aufgeteilt und wurde 1921 von Polen wieder erobert. Während im Zarenreich die ukrainische Sprache in "Kleinrussland" verboten oder bestenfalls als Bauernslang verpönt war, behauptete sich in Lemberg (Lwiw), Ternopol und anderen Städten die ukrainische Kultur.

Zwischen den Weltkriegen suchte Militärdiktator Jozef Pilsudski, von der Ausdehnung Polens bis Kiew träumend, die Westukraine als Gegenmodell zur Sowjetunion zu formieren. Die verlor ihren Einfluss auf den Westen durch die Zwangskollektivierung nach 1929, die sieben Millionen Ukrainer - Bauern, die Träger der nationalen Tradition - das Leben kostete.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Ukraine wiedervereinigt. Im Westen hielt Partisanen-Widerstand bis in die fünfziger Jahre an. Die Oppositionsbewegung "Ruch" konnte sich nach 1991 auf diese Geschichte beziehen. Sie trug gleichzeitig die Demokratie. Sie erreichte die Intellektuellen von Kiew, aber kaum das Donbass.

Aus: Frankfurter Rundschau, 26. November 2004


Zurück zur Ukraine-Seite

Zurück zur Homepage