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Für Ukrainer ein Held, für Russen ein Verräter

Wie eine 300 Jahre zurückliegende Schlacht zum Politikum wird

Von Wilhelm Siemers *

Russen und Ukrainer sind durch Millionen Fäden - verwandtschaftliche, historische, kulturelle, wirtschaftliche, militärische - miteinander verbunden. Und doch mehren sich die Streitpunkte zwischen ihnen. Einer davon ist die Interpretation der Geschichte - und liege sie auch Jahrhunderte zurück.

Vor 300 Jahren, am 8. Juli 1709, besiegte Zar Peter der Große (1672-1725) den Schwedenkönig Karl XII. (1682-1718) in der Schlacht bei Poltawa. Der Sieg war für Russland damals ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur neuen Großmacht im Osten Europas. Aber auch 300 Jahre später ist die Schlacht ein Politikum, das Russland wie die Ukraine bewegt.

Als die Deutsche Romea Kliewer im Herbst vergangenen Jahres als Lektorin der Robert Bosch Stiftung in der zentralukrainischen Stadt Poltawa zu arbeiten begann, lag die Idee einer Geschichtswerkstatt zur historischen Schlacht auf der Hand: Die 300-Jahrfeier stand schließlich vor der Tür. Aus der Idee wurde ein Projekt, an dem sich Studenten aus Poltawa und Freiburg beteiligen. Sie untersuchen den Wandel der ukrainischen Erinnerungskultur nach 1991, der - zusätzlich zum Streit um Gaspreise, die Schwarzmeerflotte oder die Grenzziehung in der Meerenge von Kertsch - schon zu mancher Belastung im Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine geführt hat.

In der russischen Geschichtsschreibung gilt die Schlacht von Poltawa als »Sieg der russischen Waffen«. Für die ukrainische Regierung markiert sie dagegen so etwas wie den Beginn des Unabhängigkeitskampfes, weil sich der ukrainische Kosakenführer Iwan Masepa (1639-1709) seinerzeit gegen den Zaren gestellt und an der Seite der Schweden gekämpft hatte. Als der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko ankündigte, ein Denkmal Masepas und des Schwedenkönigs vor das Poltawer Museum setzen zu wollen - genau neben das Monument des Siegers, des russischen Zaren -, sah sich Russland zusätzlich provoziert.

Die Gemüter erhitzen sich gerade an der Gestalt des Hetmans Iwan Masepa. Er, der zuvor an der Seite Peters I. gekämpft hatte, war mit etwa 3000 seiner Kosaken in der entscheidenden Schlacht bei Poltawa zum schwedischen König übergelaufen. Erfolgreich war die Aktion nicht: Die überlegenen russischen Truppen besiegten das Heer des Schwedenkönigs. Karl XII. und Masepa flohen nach Bender in Bessarabien (heute Moldova) und fanden Schutz beim osmanischen Sultan. Kurz darauf starb der Hetman.

Für die Ukrainerin Anastasija Maliyenko ist Masepa jedoch heute trotz der militärischen Niederlage ein Held. Das ukrainische Volk habe damals gezeigt, dass es auch gegen den russischen Zaren handeln kann, sagt die 18-jährige Studentin - und liegt damit auf der politischen Linie ihres Präsidenten. Zum 370. Geburtstag des Hetmans im März pries Viktor Juschtschenko den Kosakenführer gar als Staatsgründer. »Iwan Masepa ist kein Verräter, sondern ein Beschützer seines Heimatlandes«, betonte der Präsident. Es sei an der Zeit, »die Mythen über den angeblichen Verrat Masepas zu zerstreuen«.

Dabei ist die Meinung über die Bedeutung des Kosaken in der Ukraine durchaus nicht eindeutig. Laut einer Befragung der Research&Branding Group hält ein Drittel der Ukrainer Masepa für einen Helden, der für die Unabhängigkeit der Ukraine kämpfte. Das zweite Drittel hält Masepa für einen Verräter. Die anderen haben dazu keine Meinung. Anastasija Maliyenko aus Poltawa ist indes der festen Überzeugung, dass der Hetman den Grundstein für die ukrainische Unabhängigkeit gelegt hat. So wird eine weit zurückliegende militärische Niederlage für die Gegenwart zum politischen Sieg umgedeutet.

Wenn der russische Historiker Juri Sorokin aus dem westsibirischen Omsk von solchen Geschichtsdeutungen hört, bleibt er gelassen. »Jeder junge Nationalstaat versucht seine Geschichte länger und älter zu machen. Die Ukraine ist da keine Ausnahme.« Sowohl in Russland als auch in der Ukraine gebe es Historiker, die nationale Geschichte gerne umdeuten. Nur würden diese unseriösen Historiker in der Ukraine vom Staat unterstützt, während Geschichtsfälscher in Russland keine Chance hätten, meint der 52-Jährige. Die Sichtweisen jedenfalls seien unvereinbar: »Für die Ukrainer wird Masepa ein Held bleiben, für die Russen ein Judas.«

Guido Hausmann vom Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte der Albert-Ludwigs- Universität Freiburg, der als Teamleiter an der Geschichtswerkstatt teilnimmt, versucht die Wogen zu glätten. Wichtig sei, dass deutsche und ukrainische Studenten gemeinsam die Geschichte des frühen 18. Jahrhunderts erforschen und ihre eigene politische Haltung in Frage stellen. Auch er sieht, dass die Geschichte in der Ukraine politisch vereinnahmt wird: »Poltawa und Masepa werden politisiert, mehr als nötig und mehr als es gut ist«, sagt der deutsche Historiker und ergänzt: »Auch für die russische Geschichtspolitik wäre der Jahrestag eine gute Gelegenheit, Russlands Verhältnis zu seinen Nachbarn kritisch zu überdenken. Das geschieht jedoch kaum.« es werde wohl noch eine Weile dauern, bis sich eine plurale und kritische Geschichtskultur in Russland und in der Ukraine durchsetze.

Romea Kliewer, die Leiterin der Geschichtswerkstatt in Poltawa, sieht immerhin Zeichen der Entspannung. Die Kiewer Regierung sei in Sachen Masepa-Denkmal schon zurückgerudert. Der ursprüngliche Plan, das Denkmal vor das Museum neben das Zarenmonument zu stellen, wurde revidiert. Stattdessen wollen die Ukrainer das Denkmal jetzt auf dem einstigen Schlachtfeld platzieren. Zudem seien Ukrainer und Russen im Gespräch, das komplette Schlachtfeld schrittweise zu restaurieren. Für Kliewer ist das ein Hinweis darauf, dass die Ukraine Russland nicht provozieren und innenpolitisch dennoch ihren eigenen Weg gehen will.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Juli 2009


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