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DIE HEILIGE JULIA

Es gibt solche und solche Diktaturen

Von Uli Gellermann *

Über 160 Folter- und Misshandlungsvorwürfe erhob Amnesty International gegen ukrainische Haftanstalten und beklagte die "Untätigkeit der Behörden". Die Menschenrechtsorganisation spricht davon, dass ukrainischen Häftlingen überlebenswichtige Medikamente vorenthalten würden. Typisch Diktatur sagt der deutsche Medienkonsument. Denn in diesen Tagen hat der berühmte Menschenrechtsexperte Norbert Röttgen die Ukraine so gebrandmarkt. Dumm nur, dass die Amnesty-Zahlen aus dem Jahresbericht 2009 stammen, dem Jahr, in dem für die Menschenrechte in der Ukraine eben jene Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko verantwortlich war, die den deutschen Medien und Politikern zur Zeit als Märtyrerin eines diktatorischen Systems gilt. In ihrer Amtszeit, fand die offizielle deutsche Empörungsmaschine in der Ukraine nichts zu bemängeln.

Julia Tymoschenko kommt aus der kleinen Schicht schwerreicher Oligarchen, die sich während des Zerfalls der Sowjetunion am staatlichen Eigentum gütlich getan hat. Ihr Vermögen wird auf mehrere hundert Millionen Dollar geschätzt. Eine beträchtliche Anhäufung von Reichtum für eine ehemalige Ingenieurin der Maschinenbaufabrik "Lenin". Würde man diese brutale Enteignung der durchweg bettelarmen ukrainischen Bevölkerung allerdings als Delikt werten, wären es um die zwanzig Oligarchen, die mit Frau Tymoschenko die Anklagebank drücken müssten. Aber in der Ukraine herrscht lupenreiner Kapitalismus und in dem ist die extrem schnelle Anhäufung von Reichtum nicht verboten. Verboten ist offiziell Korruption. Die wird der Ex-Ministerpräsidentin nicht nur von ukrainischen Behörden vorgeworfen, sondern auch von US-amerikanischen Anwaltskanzleien: Die haben immerhin vor einem New Yorker Gericht eine "Subpoena" (Erzwingung zur Herausgabe von prozessrelevanten Informationen mit Strafandrohung) gegen Tymoschenko erwirkt. Die Vorwürfe der Anwälte sind Teil eines amerikanischen Verfahrens gegen die Schweizer Bank Credit Suisse, die der blonden Julia bei der Geldwäsche unterschlagener Gelder geholfen haben soll.

Sicher ist das Gefängnis- und Justizsystem der Ukraine nicht vorbildlich. Aber ob diese Erkenntnis reicht, um von einer ukrainischen Diktatur zu sprechen, wie es Röttgen und ein erheblicher Teil der deutschen Medien tun, ist fraglich: Noch steht auf der Web-Seite des deutschen Außenministeriums, dass Viktor Janukowytsch am 25. Februar 2010 als neuer Präsident vereidigt wurde und die OSZE die Präsidentschaftswahlen zuvor als frei und überwiegend fair bezeichnet hat. Trotzdem macht sich noch jemand Sorgen um die Standards der Ukraine: "Uns beunruhigt insbesondere, dass Julia Tymoschenko . . . in der Haft ihre Gesundheit einbüßt, und dass eine angemessene Reaktion der ukrainischen Seite ausbleibt", sagt ein Sprecher der NATO, jener Organisation, die sich seit Jahr und Tag - ob in Libyen oder Afghanistan - heftig um die Rechte der Menschen kümmert. Der Hintergrund dieser Fürsorge ist bekannt: Gab und gibt es doch im Tymoschenko-Lager eine Neigung zu einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, während ihr Gegenspieler und jetziger Präsident, Viktor Janukowytsch sich eindeutig dagegen erklärte.

Während der Freiheitspräsident Gauck und viele andere Freiheitskämpfer aus den deutschen Parteien mit einem Boykott der Fussball-Europameisterschaft in der Ukraine drohen, wenn die heilige Julia nicht sofort in eine deutsche Klinik entlassen wird, weil die ukrainischen Ärzte so etwas simples wie einen Bandscheibenschaden angeblich nicht beheben können, kann ein anderer Nachfolgestaat der Sowjetunion unbedroht tun und lassen was er will: Die anerkannte Erbdiktatur in Aserbeidschan darf sich im Mai der Austragung Eurovision Song Contest erfreuen. Mit Hilfe des staatlichen deutschen Fernsehens, versteht sich. Es gibt eben Diktaturen, die man dazu erklärt und solche, die über größere Mengen Gas und Öl verfügen und schon deshalb keine Diktaturen sein können. Sicher auch deshalb, weil, wie die US-Zeitung "Foreign Policy" meldet, das aserbeidschanisches Militär der isralischen Luftwaffe einen passenden Flugplatz für einen Angriff auf den Iran zur Verfügung stellen wird. Das wäre der zweite Schritt in einer erspriesslichen Zusammenarbeit der beiden Länder, nach dem 1,6 Milliarden schweren Militärabkommen, das Anfang des Jahres abgeschlossen wurde. Daran sollte sich die Ukraine mal ein Beispiel nehmen. Dann würde sie schnellstens aus den Schlagzeilen verschwinden. Und Pastor Gauck könnte eine luxuriöse ukrainische Loge während der Fußball-EM sein Eigen nennen.

3. Mai 2012

* Uli Gellermanns Kommentare erscheinen auf seiner Website "Rationalgalerie": www.rationalgalerie.de


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