Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Klitschko läutet Entscheidungsrunde ein

Demonstranten in Kiew fordern Rücktritt von Janukowitsch / Regierung um Entspannung der Situation bemüht

Von Roland Etzel *

Ungeachtet eines gerichtlichen Verbots haben Zehntausende Menschen in Kiew auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz gegen die Regierung protestiert. Sie forderten einen »Westkurs« ihres Landes.

Sie wollen jetzt offenbar aufs Ganze gehen. Neun Jahre nach der sogenannten Orange-Revolution in der Ukraine erachtet der politisch nach Westen ausgerichtete Teil der ukrainischen Elite die Führung des Landes für reif, wegdemonstriert werden zu können. Auch für den gestrigen Sonntag war zu Protesten aufgerufen worden, und nach dpa-Angaben folgten allein in Kiew mehr als 100 000 Menschen der Aufforderung.

An vorderster Front standen dabei erneut als politischer Kopf Arseni Jazenjuk, bis 2008 Außenminister und später Parlamentspräsident, und gewissermaßen als Volkstribun Vitali Klitschko, Schwergewichts-Champion im Profiboxen und gegenwärtig Fraktionsvorsitzender der drittgrößten Parlamentspartei UDAR. Und nicht zu vergessen: Aus dem Gefängnis heraus rief die nach einem fragwürdigen Korruptionsprozess verurteilte ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko zum Präsidentensturz auf: »Vereinigt euch und stellt die Gerechtigkeit in eurem Staat wieder her! Nehmt die Macht in eure Hände!«

Obwohl Ministerpräsident Nikolai Asarow angeordnet hatte, dass der Unabhängigkeitsplatz im Zentrum der Hauptstadt frei bleiben müsse, versammelten sich Demonstranten gerade dort. Doch diesmal zog sich die bewaffnete Staatsmacht zurück, nachdem sie am Freitag ihre Ordnungshüter mit dem Knüppel hatte agieren lassen. Im Nachhinein hat die Regierung diese Entscheidung wohl als wenig glücklich angesehen. Jedenfalls versprach am Sonnabend Präsident Viktor Janukowitsch persönlich »Aufklärung über die Vorwürfe« gegen die Polizei sowie den »Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit«.

Das westliche Ausland verschickte Protestnoten. EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle äußerte sich besorgt über die Beschränkung der Demonstrationsfreiheit. Schwedens Außenminister Carl Bildt empörten vor allem die »Repressionen gegen EU-Befürworter. Auch aus der US-Botschaft kam Protest.

Die Behörden wiederum beschuldigten Demonstranten, Polizisten angegriffen zu haben. Doch eigentlich interessiert die Klärung des Tatbestandes kaum noch, jedenfalls nicht die Oppositionsführer. Sie verlangen nichts weniger als den mehr oder weniger bedingungslosen Rücktritt von Präsident und Regierung. Ermutigt fühlen sich Klitschko und Co. von der EU-Spitze. Ratspräsident Herman van Rompuy hatte die Nicht-Unterschrift Janukowitschs unter das angebotene Assoziierungsabkommen als inakzeptabel bezeichnet.

Der SPD-Politiker Günter Verheugen, früher ebenfalls EU-Erweiterungskommissar, ist wohl nicht gegen die Ambitionen der heutigen EU-Wortführer, jedoch hält er die derzeitige EU-Konfrontationspolitik für kontraproduktiv. Im Deutschlandfunk kritisierte er »die Verengung auf eine einzige Frage«, die des Umgangs mit Timoschenko. »Wir hätten ja das Abkommen leicht im vergangenen Jahr unterzeichnen können, da gab es noch gar keinen russischen Druck, aber damals ist, nachdem das Abkommen bereits fertig war, der Gedanke aufgekommen, da können wir vielleicht noch ein bisschen mehr rausholen, und es wurde Julia Timoschenko zur verfolgten Unschuld stilisiert und ein massiver Eingriff in die Souveränität dieses Landes verlangt. Und es war ganz klar, dass das ganz, ganz große innenpolitische Schwierigkeiten hervorrufen würde.«

* Aus: neues deutschland, Montag, 2. Dezember 2013


Kraftprobe in Kiew

Großdemonstration von EU-Anhängern in ukrainischer Hauptstadt. Ausschreitungen und Angriffe rechter Schläger auf Zivilisten. Stadtrat gestürmt. Polizei setzt Tränengas ein

Von Reinhard Lauterbach **


Rund einhunderttausend Anhänger der »proeuropäischen« ukrainischen Opposition haben sich am Sonntag trotz eines Demonstrationsverbots im Zentrum Kiews versammelt. Die Demonstranten zogen von der Universität zum Bessarabskij-Markt und dann die Prachtstraße Kreschtschatik entlang zum Unabhängigkeitsplatz. Die Polizei ließ sie zunächst gewähren, obwohl Fernsehbilder zeigten, wie Demonstranten unter den schwarz-roten Fahnen der nationalistischen Partei UNA-UNSO Fenster der Stadtverwaltung einschlugen und sich am Rande der Demonstration mit Zivilisten prügelten. Die Randalierer trugen Bau- und Fahrradhelme und waren vermummt. Im westukrainischen Lwiw waren vergangene Woche über ein örtliches Onlineportal »kampferprobte Männer« aufgerufen worden, an der Kundgebung teilzunehmen. Gegen Abend eskalierte die Situation, als Demonstranten unter Führung von Nationalisten den Sitzungssaal des Kiewer Stadtrats besetzten.

Im Regierungsviertel oberhalb des Unabhängigkeitsplatzes versuchten Demonstranten, mit Hilfe eines mitgebrachten Bulldozers das Gebäude der Präsidentenadministration zu stürmen; die Polizei trieb sie mit Tränengas zurück. Die Demonstrationsleitung schrieb die Ausschreitungen Provokateuren zu und streute Gerüchte, ab Montag solle der Ausnahmezustand ausgerufen werden. Auf der Kundgebung erklärte der einstige Innenminister der »Reform«-Regierung von Julia Timoschenko, Juri Luzenko, die Versammlung zum Beginn einer neuen Revolution: »Hier und heute begraben wir die Ukrainische Sowjetrepublik«. Auch an Demagogie fehlte es nicht. Ein Abgeordneter der Klitschko-Partei UDAR versprach den Leuten goldene Berge: In 15 Jahren werde die Ukraine zu den wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften der EU gehören, und ein Ukrainer werde Präsident der EU-Kommission sein, rief der Mann – in bewußter Täuschung über die Tatsache, daß eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU gerade nicht das Ziel der Assoziierung sein soll.

Die gestrige Großdemonstration war eine Reaktion auf den Polizeieinsatz gegen das wesentlich kleinere Protestcamp auf dem Unabhängigkeitsplatz in der Nacht zum Samstag. Dabei hatten angehörige der Anti-Aufstandspolizei »Berkut« die mehreren hundert Aktivisten mit großer Brutalität auseinandergetrieben und mehrere Dutzend Personen festgenommen, darunter offenbar auch einige »Demokratieförderer« aus dem EU-Ausland. Die Härte des Polizeieinsatzes führte dazu, daß sich Innenminister Witali Sachartschenko nachträglich bei der Öffentlichkeit entschuldigte und Präsident Wiktor Janukowitsch eine Untersuchung gegen die Verantwortlichen ankündigte. Janukowitsch versuchte, die Lage mit der Erklärung zu beruhigen, er sei weiter bemüht, die Ukraine an die EU anzunähern.

Über die Motivation der Pro-EU-Demonstranten vor dem Polizeieinsatz vom Samstag gibt eine Reportage in der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza Auskunft. Die Antworten offenbaren eine geradezu groteske politische Naivität: Einer der Organisatoren, ein 32jähriger Online-Journalist, sagte, für ihn sei Europa die Möglichkeit, sich einen gebrauchten Mercedes zu leisten, wenn auch auf Kredit, während Janukowitschs Politik der Reparatur eines alten Lada gleiche. Es herrschte eine Aura nationaler Stimmungsmache: Zum Absingen der ukrainischen Hymne zündeten die Leute Feuerzeuge an, hüpften auf der Stelle und skandierten: »Wer nicht springt, ist ein Russenknecht«. Andere trommelten derweil auf leere Benzinfässer und schrien »Tod Janukowitsch«.

** Aus: junge Welt, Montag, 2. Dezember 2013


Ex oriente njet

Beim Ostpartner-Gipfel erhielt die EU Absagen

Von Hannes Hofbauer, Wien ***


Erstmals seit dem Zusammenbruch von RGW und Sowjetunion schallte der EU an diesem Wochenende auf ein Integrationsangebot ein klares Njet aus dem Osten entgegen.

Die Ukraine will die Brüsseler Vorgaben nicht umsetzen. Von sechs eingeladenen »Ostpartnern« unterzeichneten nur Moldau und Georgien ein Assoziationsabkommen. Gegründet wurde die EU-Ostpartnerschaft auf Betreiben der damaligen polnischen und schwedischen Außenminister Radoslaw Sikorski und Carl Bildt im Jahre 2009. Sie ist für sechs ex-sowjetische Republiken ausgeschrieben: Moldau, Georgien, Armenien, Aserbaidshan, Belarus und Ukraine. Ein Budget von 600 Millionen Euro bis Ende 2013 bedient neben technischen Ausgaben hauptsächlich den ideologischen Überbau des EU-Erweiterungsprojektes.

Im Wesentlichen geht es um die Durchsetzung der vier kapitalistischen Freiheiten in den internationalen Beziehungen: freier Verkehr von Waren, Kapital, Dienstleistungen und – quotiert – Arbeitskraft. Die Ostpartnerschaft stellt den multilateralen Rahmen, der dann in bilaterale Assoziierungsabkommen münden soll. Solche sind im litauischen Vilnius nur von Moldau und Georgien unterzeichnet worden. Dass die EU damit ausgerechnet jene zwei Länder an die Kandare genommen hat, die nicht einmal territorial gefestigt sind und mit Transnistrien (für Moldau) sowie Südossetien und Abchasien (für Georgien) abtrünnige Provinzen aufweisen, mag Brüssel noch so manches Problem bereiten.

Belarus und Aserbaidshan erfüllten die Vorgaben aus Brüssel nicht, zumal Minsk gemeinsam mit Russland und Kasachstan Teil der von Moskau geführten Zollunion ist, die als Gegenprojekt zur EU-Assoziierung gedacht ist. Armenien wiederum ließ schon vor Monaten wissen, dass es sich ebenfalls dieser Zollunion anschließen wolle, was Missfallen in Brüssel erregt.

Und die Ukraine erkannte 10 Tage vor dem Gipfel in Vilnius, dass sie – wie ihr Ministerpräsident Nikolai Asarow es ausdrückte – ihre »nationalen Sicherheitsinteressen wahren« müsse und Wirtschaftsbeziehungen »auf Augenhöhe« benötige. Beides war mit dem bereits ausverhandelten Vertrag offensichtlich nicht zu haben. Die von Brüssel angestrebte Militärkooperation würde nicht nur in Sewastopol, wo die russische Marine stationiert ist, geopolitische Sprengkraft entfalten. Und in wirtschaftlicher Hinsicht erklärt ein Blick auf die Außenhandelsstruktur das ukrainische Njet. Die Exporte in die EU beschränken sich nämlich hauptsächlich auf Rohstoffe wie Kohle und Stahl, während in Richtung Russland Maschinen und Lebensmittel geliefert werden. Ukrainische Industrieprodukte sind am EU-Markt nicht konkurrenzfähig, weshalb das EU-Versprechen auf Markterweiterung ein einseitiges ist. Profitieren würden nur Westfirmen, die sowohl einen großen Absatzmarkt als auch den ukrainischen Arbeitsmarkt, auf dem der durchschnittliche Monatslohn knapp 300 Euro brutto beträgt, nützen könnten. Der eigentliche Grund, warum Kiew dem Druck Moskaus nachgeben hat, liegt allerdings im Energiebereich. Während das Zollunions-Mitglied Belarus für 1000 Kubikmeter sibirisches Gas 169 Dollar bezahlt, berechnet der russische Monopolist Gazprom der Ukraine aktuell 420 Dollar. Moskau hatte damit schlicht die härteren ökonomischen Argumente auf seiner Seite. Präsident Viktor Janukowitsch hat übrigens in Vilnius der EU seinen Preis genannt. Er will von Brüssel 160 Milliarden Euro für den Fall, dass er doch noch unterschreiben sollte – und zwar als Kompensation für zu erwartende Ausfälle im Ostgeschäft.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 2. Dezember 2013


Klitschkos unsauberer Fight

Von Roland Etzel ****

Kommt Janukowitsch nur noch um den Preis der Aufgabe aus der Ringecke? Sein Gegner Klitschko möchte diesen Eindruck wohl erwecken. Der Boxer und Oppositionspolitiker fordert jetzt nicht weniger als den »vollständigen Regierungswechsel«, denn die »ganze Ukraine« sei aufgestanden.

Klitschko weiß, dass das nicht stimmt. Zwar ist das Land in zwei Lager gespalten, aber nicht zu gleichen Teilen, und er repräsentierte bislang die Minderheit. Was die Schlägerorgie der Kiewer Polizei angeht, so überstieg sie gewiss das Ausmaß dessen, was sich gelegentlich zwischen Abgeordneten im Kiewer Parlament abspielt, aber alle Wahlergebnisse sind damit nicht hinfällig. Vor allen aber: Klitschko drischt auf Janukowitsch, aber er fightet dabei wohl unsauberer als je in seiner Sportlerlaufbahn. Er verurteilt Janukowitsch, ohne auch nur anzudeuten, zu welchem Weg er aus der ukrainischen Zwickmühle zwischen Brüssel und Moskau ein Klitschko geraten hätte.

Tatsächlich trug, was die EU Janukowitsch als EU-Assoziierung angeboten hatte, mehr den Charakter eines Ultimatums als den einer Einladung, gespickt mit das Land weiter polarisierender antirussischer Attitüde. Die Zeit der »eingeschränkten Souveränität« sei in Europa vorüber, polterte Kommissionspräsident Barroso, an die Adresse Russlands gerichtet. Es wäre interessant zu wissen, wie dies Wort in Griechenland aufgenommen wurde.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 2. Dezember 2013 (Kommentar)


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