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Ukraine: Sieg der Demokratie? Niederlage der alten Ordnung?

Kommentare von Kai Ehlers und Karl Grobe

Sieg der Demokratie?

Von Kai Ehlers

Es scheint vollbracht. Die Genugtuung ist nicht zu überhören. Der ukrainische Präsident Kutschma erkennt das Urteil des obersten Gerichtes an, die Stichwahl zu wiederholen. Die streitenden Parteien haben sich darauf geeinigt, im Parlament über ein Paket von Forderungen beider Seiten abzustimmen. Juschtschenkos erwartet die Entlassung der Regierung Janukowitschs sowie eine Neubesetzung des Landeswahlausschusses und eine Änderung des Wahlrechtes noch vor dem genannten Termin für die Neuwahl. Präsident Kutschma will, dass die Opposition einer Verfassungsänderung zustimmt, die vorsieht, die Rechte des Präsidenten u.a. bei der Wahl von Gouverneuren zugunsten des Parlamentes und des Ministerpräsidenten zu beschneiden. Die OSZE will an die 2000 Wahlbeobachter ins Land zu schicken, um eine Spaltung des Landes zu verhindern, der russische Präsident Putin rügt den Westen für "koloniale Methoden der Einmischung", erklärt sich aber bereit, den Ausgang der Wahl anzuerkennen.

Alles gut also? Wieder ein Dominosteinchen für ein demokratisches Haus Europa aufgestellt? Mitnichten, fürchte ich; schauen wir genau hin:

Erstens: Was hat das oberste Gericht beschlossen? Das Gericht kritisiert die Wahlkommission dafür, dass sie die Ergebnisse schon bekannt gegeben habe, als noch Klagen anhängig waren, weiter, dass "ein und derselbe Bürger mehr als einmal in die Listen aufgenommen wurde", dass der Umgang mit den Wahlberechtigungsscheinen die "Anforderungen verletzte", dass der "Wahlkampf in den Medien ohne Kontrolle über gleichmäßigen Zugang" durchgeführt wurde und schließlich, dass das "Verbot der Einmischung von Angehörigen der Exekutive und von Beamten örtlicher Behörden in den Wahlkampf" nicht erfüllt worden sei. Unter diesen Umständen kam das Gericht nicht etwa zu dem Schluss, Juschtschenko sei betrogen worden und müsse als Wahlsieger anerkannt werden, sondern es erklärte, "dass es unmöglich (sei), den wirklichen Wählerwillen festzustellen" und daher die Wahl zu wiederholen sei.

Zweitens: Welche Änderungen des Wahlgesetzes verlangt die Opposition? Sie verlangt, dass in Zukunft nicht mehr stellvertretende Stimmen abgegeben werden dürften und dass es keine mobilen Wahllokale mehr geben solle. Wenn man weiß, wie Wahlen traditioneller Weise im vor-sowjetischen und sowjetischen Raum wie auch danach noch stattfanden, nämlich im patriarchalen Konsens, sprich gemeinschaftlich organisiert, dann bedeutet dies - vom materiellen Gehalt her gesehen - nicht mehr und nicht weniger, als dass die Beeinflussung der Wählerinnen und Wähler in Zukunft nicht mehr unmittelbar in ihren jeweiligen Kollektiven oder auch noch direkt vor der Wahl geschieht, sondern auf einen Wahlkampf vorverlagert wird. Dies kann man als einen Fortschritt an formaler Demokratie betrachten; ob er automatisch zu mehr Demokratie im Sinne einer freiheitlichen Selbstbestimmung führt, das kann man nicht nur, das muss man bezweifeln, wenn man sich die Wahlvorgänge in entwickelten Demokratien, zuletzt zum Beispiel in den USA anschaut.

Drittens: Was beinhaltet die Zustimmung der Opposition zur Verfassungsänderung? Der materielle Gehalt der Änderung läge darin, Präsidialbürokratie, Provinzbarone und die mit ihnen verflochtenen Oligarchen der ukrainischen Olikratur kontrollierbar zu machen. Käme es so, wäre das sicher ein Gewinn für gesellschaftliche Transparenz in der Ukraine. Aber erstens soll - gleich wer gewählt wird - die Verfassungsänderung erst ab September 2005 in Kraft treten; bis dahin ist viel Wasser den Dnepr hinuntergeflossen. Ein Blick auf die Akteure im Hintergrund lässt zudem erkennen, dass auch eine von der Opposition gestellte Präsidentschaft und Regierung Spielball der Olikratur bliebe. Bezeichnend ist beispielsweise die Rolle, die Pintschuk, Schwiegersohn von Kutschma, jetzt spielte. Er ist einer der einflussreichsten Oligarchen auch im Osten des Landes. Das hat nicht daran gehindert, die "orangene Revolution" kräftig zu sponsorn und bekannte US-Größen wie Kissinger, Soros, Brzezinksi vor der Wahl ins Land einzuladen. Er hat, wie der Spiegel in Anlehnumg an eine volkstümliche Beurteilung des Oligarchen es ausdrückt "Eier in jedes Körbchen gelegt".

Bleibt schließlich noch anzumerken, dass selbst zweitausend Wahlbeobachter der OSZE nichts an der Tatsache ändern können, dass auch das sauberste formaldemokratische Wahlritual nicht die tatsächlichen Hindernisse für eine Selbstbestimmung der ukrainischen Bevölkerung beseitigt, nämlich die Lage ihres Landes zwischen einem um seinen Bestand kämpfenden Russland und einer sich ausweitenden Europäischen Union. Dieses Problem wird nicht durch die Wahl des einen oder des anderen Kandidaten entschieden, sondern einzig allein durch deren Kooperation, auf welchen politischen Ebenen diese sich auch immer entwickeln mag. Diese Kooperation wird ohne aktive Beteiligung Russlands und der EU und darüber hinaus der internationalen Staatengemeinschaft jedoch nicht zustande kommen. So verstanden, kann die Ukraine zum Testfall einer globalen Demokratisierung werden.

Kai Ehlers, Hamburg (7. Dezember 2004)

Ein demokratischer Prozess

VON KARL GROBE

Der demokratische Prozess in der Ukraine ist einen wesentlichen Schritt vorangekommen; er ist aber noch nicht ganz am Ziel. Die ursprüngliche Hauptforderung der Opposition und der Massenbewegung, Wiktor Janukowitsch müsse wegen erwiesenen Wahlbetrugs als Premier entlassen werden, wurde nicht erfüllt. Die von der Werchowna Rada, dem Parlament, beschlossenen Verfassungsänderungen beschneiden die Befugnisse des Staatspräsidenten und verlagern wesentliche Entscheidungen ins Parlament. Ein wahrscheinlich weiser Beschluss; aber der radikale Flügel der Opposition wollte den ganzen Präsidenten mit ungeschmälerten Rechten.

Das sind nicht nur Marginalien. Wichtiger ist aber, dass noch einmal, und diesmal hoffentlich sauberer, gewählt wird. Geht es mit dem zu, was die Orange-Bewegung für die rechten Dinge hält, dann kann nur ein klares Votum für Wiktor Juschtschenko herauskommen. Doch das ist nicht so sicher, wie man da glaubt.

Erstens ist der Zusammenhalt der Wahlkoalition "Unsere Ukraine" keineswegs garantiert. Julia Timoschenko, die eine eigene Partei führt, hat dem Kompromiss in der Rada ihren Segen verweigert. Zweitens kann Janukowitsch, der zu Wahlkampfzwecken beurlaubt worden und daher als noch am Amt klebender Premier unkündbar ist, auf seine Kandidatur noch verzichten. Tut er dies zehn oder mehr Tage vor dem Wahltermin am zweiten Weihnachtstag, so wird der Dritte der - ungültigen - Stichwahl, der Sozialist Alexander Moros, automatisch zum Bewerber. Wirft Janukowitsch aber nach dem 16. Dezember das Handtuch, so verwandelt sich die Wahl in ein Plebiszit für oder gegen Juschtschenko.

Dass dort, wo die Donezker Mafia die politischen Geschäfte führt, massiv gegen den Orange-Kandidaten votiert werden wird, kann man als sicher voraussetzen. Doch Janukowitsch hat in den Augen dieser Mafia bei der Wahl versagt, kann wohl kaum ehrlich gewinnen, aber noch erheblich stören. Ein kräftiges "Gegen alle" oder einfach "Nein" in Janukowitsch-Land kann nämlich Juschtschenko dann an den erforderlichen fünfzig Prozent scheitern lassen, wenn aus seinem eigenen Lager nennenswerte Kohorten desertieren. Auch das wäre eine demokratische Entscheidung, freilich eine, die in eine Krise mit neuem Inhalt führt.

Das ist keine Schwarzmalerei, sondern ein respektvoller Hinweis auf einen wieder erfreulich offen gewordenen demokratischen Prozess. Eben weil das Ergebnis nicht vorab feststeht, ist der Vorgang den alten Bürokraten und ihren Moskauer Förderern so unbegreiflich. Der Unterschied zwischen der autoritären Ordnung in Wladimir Putins Russland und dem differenzierteren politischen Leben selbst in der Ukraine Leonid Kutschmas ist ihnen nicht geläufig. Sie haben deshalb Janukowitsch alle denkbare Unterstützung angedeihen lassen und dabei kein Fettnäpfchen ausgelassen.

Die Verlegenheit ist so groß wie die Verlogenheit des ersten Wahlresultats. Mit roten Ohren schieben sie nun alles auf die ausländische Einmischung (als ob Russland für die Ukraine nicht auch Ausland wäre). Selbstverständlich kann man die finanzielle und ideelle Förderung der Demokratiebewegung durch politische Stiftungen und sympathisierende Staatsvertreter so einordnen, und es wäre töricht, das alles abzustreiten. Aber da gilt auch der Satz des alten Marx: Eine Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.

Es war und bleibt die demokratische Idee, die das Volk in einem großen Teil dieses großen Landes in Bewegung gesetzt hat. Es war und wird keine Entscheidung zwischen "dem Westen" und "dem Osten", selbst wenn die Einmischer beider Seiten den Eindruck erweckt haben. Es war und bleibt ein Verdikt über die oligarchischen Clans, welche die Ukraine bisher - gestützt auf Wählerstimmen - manipuliert haben. Genau diese alte Ordnung steht jetzt zur Disposition.

Aus: Frankfurter Rundschau, 9. Dezember 2004


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