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"Was sind Worte, was die Feder ..."

Vor 70 Jahren ermordeten die deutschen Okkupanten 33 771 Juden im ukrainischen Babi Jar *

Am 19. September 1941 gab das Oberkommando der Wehrmacht in einer Sondermeldung bekannt, dass deutsche Truppen in Kiew eingedrungen wären. Über der Zitadelle wehe die Reichskriegsflagge. Für die ukrainische Hauptstadt begann eine mehr als zweijährige deutsche Besatzungszeit, ein mörderisches Regimes. Erst am 6. November 1943 gelang es der Roten Armee, die Stadt zu befreien.

Zur Geschichte der faschistischen Herrschaft, die zwischen diesen beiden Daten liegt, gehört das Verbrechen von Babi Jar, der Massenmord an den jüdischen Bewohnern der Stadt, die vor der Wehrmacht nicht mehr hatten ostwärts fliehen können. Nirgendwo sonst sind binnen weniger Tage, ja Stunden, so viele Männer, Frauen und Kinder niedergemacht worden wie in der Schlucht nahe Kiew.

Am 28. September wurde in der Stadt durch Bekanntmachungen, hergestellt und gedruckt von der Propagandakompanie der Wehrmacht, den Juden befohlen, sich am folgenden Morgen in der Nähe eines Bahnhofs einzufinden. Das gehörte ebenso zu ihrer Irreführung wie der Befehl, sie hätten Dokumente, Geld, Schmuck und warme Kleidung mitzubringen. Am Orte versammelte sich ein Vielfaches der Zahl, die von den Mördern erwartet worden war. Dann mussten die Tausende zur im Weichbild der Stadt gelegenen Schlucht gehen, wo sie in ein vorbereitetes bewachtes Gebiet kamen. Gruppenweise wurden sie in die Schlucht geführt und mit Gewehren und Maschinengewehren getötet. Wer am ersten Tag nicht umgebracht wurde, hatte noch eine Nacht am Orte zu kampieren, dann kam auch er an die Reihe.

In der Ereignismeldung 106 hieß es: »In Zusammenarbeit mit dem Gruppenstab und 2 Kommandos des Polizeiregiments Süd hat das Sonderkommando 4a am 29. und 30.9. 33 771 Juden exekutiert. Geld, Wertsachen, Wäsche und Kleidungsstücke wurden sichergestellt und zum Teil der NSV zur Ausrüstung der Volksdeutschen, z. T. der kommissarischen Stadtverwaltung zur Überlassung an bedürftige Bevölkerung bergeben. Die Aktion selbst ist reibungslos verlaufen. Irgendwelche Zwischenfälle haben sich nicht ergeben. Gleichzeitig konnte eine Reihe NKWD-Beamter, politischer Kommissare und Partisanenführer erfaßt und erledigt werden.«

Im Bericht der Mörder wurde die Bluttat verlogen als »Vergeltungsmaßnahme« bezeichnet. In Wahrheit gehörte das Massaker zur Verwirklichung des generellen Auftrags, im eroberten sowjetischen Gebiet keinen Juden am Leben zu lassen. Als die Vertreibung der Wehrmacht aus dem eroberten Territorium einsetzte, befahl Heinrich Himmler den Mördern, die Spuren ihrer Untaten möglichst vollständig zu tilgen. So kehrte eine auf diese Aufgabe spezialisierte Sondereinheit nach Babi Jar zurück. Jetzt - und wieder mit gezwungenen Hilfskräften - wurden die Leichname ausgegraben, aufgehäuft und an Ort und Stelle verbrannt. Was blieb, waren die Dokumenten, in denen die Mörder akkurat festgehalten hatten, wieweit sie mit ihrer Politik der Ausrottung gekommen waren. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde ein Teil der papiernen Hinterlassenschaft von der Anklage präsentiert. Seitdem und doch erst allmählich drang in das Bewusstsein, was an Ungeheuerlichem und letztlich Unvorstellbarem geschehen war.

Am längsten dauerte das in dem Staat, auf dessen Gebiet das Verbrechen verübt wurde. Zwar hatte Ilja Ehrenburg 1944 ein Gedicht geschrieben, das mit der Klage beginnt: »Was sind Worte, was die Feder«; es wurde in der »Literaturnaja Gazeta« gedruckt. Zwar war 1966 von Anatolij Kusnetzow »Babi Jar. Ein dokumentarischer Roman«, nicht ohne Eingriffe der Zensur, auf den sowjetischen Buchmarkt gelangt (eine deutsche Übersetzung erschien in Berlin-Ost zwei Jahre später). Doch erinnerte in der Schlucht nichts und niemand an die Ermordeten. Entstanden war eine Parkanlage. 1961/1962 protestierten Jewgenij Jewtuschenko mit seinem Gedicht »Babi Jar«, das Paul Celan ins Deutsche übersetzte, und Dimitri Schostakowitsch, der den Text in seine 13. Sinfonie aufnahm, gegen das Schweigen. Doch dauerte es noch einmal fünfzehn Jahre, bis am Ort ein Mahnmal entstand - ohne dass an ihm auch nur ein Wort daran erinnerte, dass die Getöteten Juden waren. Heute laden nahe der Mordstätte eine steinerne Menorah und ein Denkmal für die umgebrachten jüdischen Kinder zum Innehalten und Nachdenken ein.

Und die Täter? Der Oberbefehlshaber der 6. Armee, in dessen Verantwortung Kiew sich zum Zeitpunkt des Massakers befand, Generalfeldmarschall Walter von Reichenau, kam 1942 bei einem Flugzeugunfall ums Leben. Generalmajor Kurt Eberhard, der Stadtkommandant von Kiew, der mit der Einsatzgruppe der Sicherheitspolizei und deren Hilfstruppen, einer Kompanie der Waffen-SS und einem Polizei-Bataillon, den Ablauf des Verbrechens gesichert hatte, nahm sich in US-Gefangenschaft 1947 das Leben. Kein Wehrmachtsoffizier wurde wegen seiner Rolle bei der Untat belangt.

Der höhere SS- und Polizeiführer Russland-Süd, Friedrich Jeckeln, der später die gleiche Funktion im Norden übernahm, wurde von einem sowjetischen Militärgericht 1946 zum Tode verurteilt und gleichen Tages auf dem Gelände des einstigen Rigaer Ghettos hingerichtet. SS-Brigadeführer Otto Rasche, Kommandeur der Einsatzgruppe C, die schon auf dem Wege nach Kiew Massenmorde an Juden verübt hatte, stand vor einem US-amerikanischen Militärgericht im Einsatzgruppen-Prozess in Nürnberg, blieb aber wegen Krankheit unverurteilt. Im gleichen Prozess saß Rasches Untergebener, der Leiter des Einsatzkommandos 4b, SS-Standartenführer Paul Blobel, auf der Anklagebank. Er wurde 1948 zum Tode verurteilt und gehörte nicht zu den später Begnadigten, sondern endete bei den letzten Hinrichtungen, die im Kriegsverbrechergefängnis Nr. 1 der USA in Landsberg am Lech 1951 stattfanden, am Galgen. Sein Stellvertreter, SS-Hauptsturmführer Knud Callsen, der eine Teilformation der Mörder an der Schlucht kommandiert hatte, konnte in der Bundesrepublik lange unter falschem Namen unbehelligt leben. Ihn und sieben weitere Täter von Babi Jar klagte 1968 das Landgericht Darmstadt an. Er kam mit 15 Jahren Haft davon. Wie viel er davon verbüßte, ist unbekannt.

* Aus: neues deutschland, 1. Oktober 2011


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