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Nur zwei Flugstunden bis ins Elend

Ukraine steht vor humanitärer Katastrophe. Experten fürchten massiven Anstieg der HIV-Infektionen

Von Markus Bernhardt *

Etwa 33 Millionen Menschen lebten im vergangenen Jahr weltweit mit einer HIV-Infektion. Am stärksten betroffen ist nach wie vor das südliche Afrika. Äußerst besorgniserregend ist jedoch auch die rasche Ausbreitung von HIV in Osteuropa. So verfügt die Ukraine, deren Hauptstadt Kiew nur zwei Flugstunden von Berlin entfernt ist, über die höchste Infektionsrate Europas und die am schnellsten wachsende AIDS-Epidemie weltweit. Aktuellen Schätzungen zufolge sind etwa 500000 der rund 47 Millionen in der Ukraine lebenden Menschen mit dem HI-Virus infiziert. Experten fürchten, daß die Anzahl der Betroffenen in den kommenden fünf Jahren auf über 800000 ansteigt.

Während das Virus in der Vergangenheit maßgeblich durch den Gebrauch benutzter Spritzen weitergegeben wurde -- knapp zwei Prozent der Ukrainer spritzen sich Drogen -- spielen nunmehr auch verstärkt sexuelle Kontakte eine Rolle bei der HIV-Ausbreitung. Vor allem Frauen, die der Prostitution nachgehen, sind einer besonders hohen Gefährdung ausgesetzt.

Obwohl die Ukraine direkt an die Europäische Union grenzt, hat die sich dort abspielende humanitäre Katastrophe bisher kaum Eingang in die Wahrnehmung der Westeuropäer gefunden. Zwar deutete sich nach dem Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Kiew im Juli dieses Jahres an, daß das HIV-Problem verstärkt in den Fokus politischer Aktivitäten genommen wird. Viel geändert hat sich seitdem jedoch nicht. Die 19 Millionen Euro, die die ukrainische Regierung in diesem Jahr zur Bekämpfung der Immunschwächekrankheit zur Verfügung stellte, sind zu gering, um selbst die bereits Infizierten allumfassend zu behandeln.

Hinzu kommen massive soziale Probleme. So lebt die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in der Ukraine am Rande des Existenzminimums. Die Folgen sind dramatisch: rapide sinkende Bevölkerungszahlen und eine der niedrigsten Lebenserwartungen in ganz Europa. Im Schatten der gesellschaftlichen Umwälzungen haben sich Drogensucht, Tuberkulose und AIDS zu Epidemien von gesellschaftsbedrohlichem Ausmaß entwickelt. Rechtsunsicherheit und Korruption bestimmen den Alltag der meisten Menschen. Die Tabuisierung von HIV und die massive Ausgrenzung von Infizierten erschweren die Präventionsarbeit außerdem.

Der Filmemacher Karsten Hein war einer der ersten, der auf die Tragödie, die sich in der Ukraine abspielt, gestoßen ist und sie in seinen beiden Dokumentationen »So wollen wir nicht sterben. AIDS in Odessa« und »Am Rande -- Sechs Kapitel über AIDS in der Ukraine« festgehalten hat. In den Filmen wird deutlich: Die Verflechtung von Armut, Perspektivlosigkeit und gesellschaftlicher Brutalität sind Nährboden der AIDS-Epidemie und Symptom einer sich im Zerfall befindlichen Gesellschaft. Der erstgenannte Film wird heute um 23.25 Uhr im Rahmen des ARTE-Themenabends »AIDS -- Seuche des Jahrhunderts« erstmalig ausgestrahlt.

www.aids-ukraine.org/

* Aus: junge Welt, 1. Dezember 2008


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